Parole Brandi: Geheimnisse in Lebensmittelfarbe
Die großen Fragen des Lebens kann einem keiner beantworten, das muss man schon selbst tun, findet unsere Kolumnistin.
Letztens stand ich in einem netten Düsseldorfer Hinterhof und unterhielt mich. Sich mit neuen Menschen zu unterhalten, kann Prozesse im Gehirn aktivieren, die uns die Welt hinterfragen lassen. Das ist ein Grund, warum wir alle müde werden, neue Leute kennen zu lernen, nehme ich mal an. Die schöne Seite der Geschichte ist, dass wir für ein paar Minuten oder Stunden die Dinge mit anderen Augen betrachten dürfen. Mit den Augen eines Fremden nämlich.
Anlass dieses Stehens in besagten Düsseldorfer Hinterhof war der Geburtstag einer meiner engsten Freundinnen. Die Familie meiner Freundin frönt einem besonderen Spleen, der bald Gegenstand der Unterhaltung wurde.
Nachdem also für meine Freundin gesungen und Dinge gesagt worden waren, trug die Schwester meiner Freundin eine prächtige, mit Wunderkerzen bestückte Torte herein. Die war zur großen Freude aller mit einem süßen Babyfoto von meiner Freundin bedruckt.
Nach innigen Umarmungen und Liebesbekundungen wurde dieses Schmuckstück von Torte draußen auf einem der Stehtische abgestellt. Kurze Zeit später fand ich mich an eben jenem Stehtisch wieder und unterhielt mich mit einem Mann über dies und das. Es handelte sich um einen so entfernten Bekannten aus längst vergangenen Tagen. Ich kann also mit Fug und Recht behaupten kann, ihn an diesem Abend, kennengelernt zu haben.
Marzipan-Philosophie
Vielleicht lag es daran, dass auch er sich den philosophischen Fragen des Lebens zugetaner geben konnte, weil wir zwei noch keine gemeinsame Geschichte hatten. Jedenfalls stellte er die verblüffende Frage, wie eigentlich das Foto in das Marzipan käme. Ich konnte es ihm weder beantworten noch mir ehrlicherweise vorstellen, wie sowas das geht.
Obwohl ich mir in dieser Kolumne eine strenge Regel auferlegt habe, nämlich, mich nie auf unsere heutige Zeit, vor allem nicht im politischen Sinne zu beziehen (aus hundert Gründen, einer davon ist meine Inkompetenz, ein weiterer ein gewisser erheiternder Faktor, den ich in diesem kleinen Kolumnen-Raum gewährleisten möchte), sage ich hiermit immerhin dies:
UdoHeutzutage erliegen wir allzu gerne der Illusion, dass uns alles verfügbar sei und dass es im Grunde keine Geheimnisse auf der Welt mehr gibt. Alles können wir im Internet nachsehen und Zack, wissen wir die Antwort.
Aber die Antwort auf die Frage, wie die Fotos auf die Torten kommen, die weiß niemand.
Mögliche Szenarien
Szenario a)
Es gibt in jeder anständigen Konditorei eine hochausgebildete Kunstperson mit Lebensmittelfarbpalette. Die malt die prallen Babybäckchen meiner Freundin geduldig und fotorealistisch auf das glatt-weiße Marzipan. Nach stundenlangem Schwitzen händigt diese fingerfertige Person die fertige „Foto“-Torte dann der Bäckermeisterin aus und hat den Rest des Tages frei.
Problem mit Szenario a): Es darf nie mehr als eine Bestellung auf einmal hereinkommen. Denn es nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, ein Foto realistisch auf Marzipan zu pinseln. Weiterhin gibt es Probleme mit dem Status dieser angestellten Person: Wer ist sie? Eine Freiberuflerin? Eine Konditorin? Oder nur sowas wie die Pauke in einem Orchester, für sporadischen Einsatz unfairerweise gleich bezahlt wie die ständig schuftende Violine, respektive Chef-Bäckerin?
Szenario b)
Es wird ein Foto aus Lebensmittelfarbe zunächst auf Papier gedruckt und anschließend in das weiße Marzipan gelegt.
Problem mit Szenario b): Viel zu riskant. Wenn das Papier wieder abgezogen wird, können Schlieren entstehen und außerdem druckt Lebensmittelfarbe auf Papier viel schlechter als echte Tinte.
Szenario c)
Das Marzipan wird direkt bedruckt. Und zwar mit einem Spezialdrucker für Lebensmittel.
Ich habe leider nicht die Zeit euch aufzuzählen, was alles an so einem Spezialdrucker unrealistisch ist und warum es ihn nicht geben kann. Also vergessen wir das.
Triggerwarnung: Weltende
Nach reiflicher Überlegung zwischen Lichterketten und Glühwürmchen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Fototorten nachts von den sogenannten „Kodacken“ gestohlen und so lange verzaubert werden, bis das entsprechende Foto auf ihnen erscheint.
Die Kodacken sind weinflaschengroße Wesen, die in den Dachböden hausen und anstelle der Augen zwei Leica-Linsen in ihren metallisch-silbrigen Köpfen haben. Sie ernähren sich von Sonneneinstrahlung und sind die einzigen Kreaturen, die vom Klimawandel profitieren werden. Ups, jetzt ist mir ja gegen Ende doch noch ein dunkler Fleck auf den Boden des heiteren Kolumnen-Raums getropft.
Sowas aber auch…