Parole Brandi: Die Schauspielschule des Lebens

Wohnungssuche mit Happy-End? Unsere Kolumnistin findet eine Bleibe – und erkennt, dass Wien ein wenig wie Neukölln ist

Nach einer Odyssee durch den Wiener Wohnungsmarkt, vorbei an gelifteten Sirenen und Nymphen-WGs zog ich in eine WG im Dreiundzwanzigsten ein.

Der Kontakt dorthin war über einen Schauspieler zustande gekommen, mit dem ich mal am Theater gearbeitet hatte. Schon immer hat mich die Zunft des Schauspielens milde fasziniert. In meiner Erfahrung sind Schauspieler:innen tendenziell ziemlich lustige Zeitgenossen, von denen ich mir stets eine Scheibe in Sachen Sendungsbewusstsein abschneiden kann.

Eines heißen Nachmittags im Spätsommer, drückte ich die Tür eines ehemaligen Büro-Gebäudes auf, quetschte mich an ein paar Fahrrädern und Holzlatten vorbei und stieg eine schmutzige Treppe hinauf in den ersten und einzigen Stock. Oben vor der offenen Wohnungstür wartete Corbinian, der Kollege meines Bekannten vom Theater. (In meiner Erinnerung hing Corbinian über dem Geländer wie ein Koalabär, aber das erscheint mir heute von meinem Hirn bloß des lustigen Effektes wegen hinzugefügt worden zu sein)

Er hatte ein offenes Gesicht, selbstgeschnittene Haare, trug eine weite, veilchenfarbene Hose und ein bis zum Nabel offenes, zerschlissenes Hemd. Auf seiner Oberlippe saß ein kleiner Schnurrbart.

„Hallo!“ strahlte er und sofort fühlte ich mich wohl.

Er führte mich in die Wohnung, die riesig schien. Wie ich später erfuhr, hatten Vanessa, Franz und Corbinian eine alte Büroetage von irgendeinem zwielichtigen Typen zu einem Spottpreis gemietet, einige Wände herausgerissen und es in eine Art Künstler-Loft verwandelt. Der Küche hatten sie die Wände gelassen, sodass sie als kleine, freundliche Zimmer-Kapsel mitten in der Wohnung saß. Die übrigen Wände und ebenso der Boden waren großflächig mit hellen Pastellfarben gestrichen und überall lehnten riesige Leinwände mit ebenso riesigen, grellbunten Kringeln bemalt. Zwei breite, hellbraune Ledersofas waren um einen Haufen aus undefinierbaren Brocken gruppiert, über dem jemand silberne Farbe ausgekippt hatte.

Gemeinsam Weinen

Corbinian war, wie gesagt, Schauspieler, daher war mit ihm zu reden angenehm leicht. Ich taute etwas auf und sagte der WG nach einer Weile des Vorgeplänkels offen, dass es mir momentan nicht sonderlich gut gehe, da ich eine Trennung hinter mir habe. Vanessa, eine kleine, leicht geduckt gehende, auffallend hübsche Frau, meinte, ich könne ruhig weinen, sie hätte heute auch schon mal geweint. Ich deutete unsere gegenseitige Ehrlichkeit als ein sich zart aufbauendes Vertrauen.

Der Abend dämmerte und Corbinian schlug vor, ich könne doch mitkommen zu einer Ausstellung, da wären ein paar Freunde von ihm und es würde sicher lustig. Ich freute mich über die Einladung und wir fuhren mit verschiedenen Straßenbahnen in den Sechzehnten.

Am Ziel angekommen, fand ich mich vor einem weiteren okkupierten Bürogebäude wieder. Das schien hier in Wien ein Ding zu sein.

Draußen waren Biertische gruppiert, an denen Leute saßen, die sich in ausgewogener Lautstärke unterhielten und aus Pappbechern tranken. Bei den Klo-Containern spielten ein paar wilde, fleckige Kinder „Piratenschiff“.

Diese locker zusammengestellte Sommerabendatmosphäre wirkte so wohltemperiert, tiefenentspannt und grundstabil, als gäbe es weit und breit nichts Böses auf der Welt. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, woher ich dieses Gefühl kannte. Ich kannte es aus den Ferien. Alles war auf den ersten Blick ganz ähnlich wie zu Hause und doch auf eine geheimnisvolle Weise so grundlegend anders, dass es mich in Wien konstant irritierte, dass die Menschen Deutsch sprachen.

Kernige Bekanntschaft

Corbinian fand bald, wen er gesucht hatte, und stellte mir draußen vor dem Eingang mit großer Geste Franz vor. Franz war eine einigermaßen beeindruckende Erscheinung. Heute finde ich ihn gar nicht mehr so stattlich und raumgreifend schön, aber als ich ihn auf diesem Hof in Ottakring das erste Mal sah, schoss es mir durch den Kopf, dass es diesen Prototypen „der kernige Surfer“ in Berlin wirklich einfach gar nicht gibt – und wenn, dann ist er ein Australier und nur zufällig auf der Durchreise.

Franz hatte etwas an, das für mich wie ein von einem Kind bekritzeltes T-Shirt aussah. Später erfuhr ich, dass es sich dabei um Franz’ eigene Kunst handelte.  Er beugte sich runter und grunzte in einem filmreif tiefen, urwüchsigen Österreichisch in mein Ohr:
„Hallo. Ich bin der Frannnz.“
Ich roch sein Haar und seine Haut. Sein Schweiß roch nach Bioladen.

„Hallo ich bin, äh… Charly“, sagte ich leicht benommen. Schnell zeigte ich auf eine Tätowierung auf seinem Oberarm, die den Kopf eines kleinen Männchens mit Rockabilly-Frisur und spitzer Nase darstellte.
„Was is’n das für Einer?“ fragte ich um abzulenken.
„Das? Das ist ein ziemlich coooooler Typ“, brummte Franz und grinste.
„Aha“, konstatierte ich und grinste zurück. „Und wer ist das?“
„Na des bin schon i. Musst wissen, i find mich nämlich auch zieeeeemlich coooool.“
Bleib offen, dachte ich, bleib einfach offen.

Im falschen Film

Die Ausstellung war im ersten Stockwerk des Büro-Gebäudes, in dem sich Bilder und Objekte an den Wänden befanden, manche davon auch mitten im Raum. Eine Serie von Bildern bestand aus einigen Motiven, die jemand aus Zeitschriften ausgeschnitten und zu etwas unordentlichen Collagen zusammengeklebt hatte. Ein anderes Ausstellungsstück war ein Plastikschwert, das aus einem Klumpen aus undefinierbarem Zeug ragte. Was ist das nur immer für ein undefinierbares Zeug hier überall, dachte ich. In einer Zimmerecke murmelte sich ein selbstgedrehter Film durch zwei viel zu laut aufgedrehte Kopfhörer.

Die Bar bestand aus einem durchsichtigen Plastikkasten, einer Art Vitrine. Es dauerte einige Minuten bis ich bemerkte, dass in der Vitrine einer lag. Da drin räkelte sich ein nackter Jüngling mit blondiertem Haarschopf. Um seinen Hals wickelte sich eine Blumenkette aus Plastik, und sein kleiner Pimmel schlackerte lustig hin und her, wenn er sich von einer auf die andere Seite drehte.

Geltungssucht international

Während Corbinian durch den Raum ging, um weitere Freunde zu begrüßen, verließ ich meinen Körper, um mit mir selbst Rücksprache zu halten, was ich eigentlich von all dem hielt. Ich hatte Neues gewollt, jetzt hatte ich Neues, ich durfte mich eigentlich nicht beschweren, befand ich zunächst. So weit, so gut. Überraschend dominant war dann allerdings eine fast wortlose, zweite Stimme in mir, die kopfschüttelnd bloß immerzu ein „Ts, ts, ts …“ von sich gab. Plötzlich sah ich ganz deutlich, dass diese Szene hier für mich in keinster Weise „neu“ war. Vielmehr war es hier exakt so wie in gewissen Ecken Berlin-Neuköllns, die ich dort schon immer mied (was gar nicht mal einfach zu bewerkstelligen ist, wenn man im Alter zwischen zwanzig und vierzig versucht dort auszugehen).

Und da war der Fehler im System: Ich kannte und ich liebte diese Menschen nicht und verzieh ihnen daher auch nicht, dass sie etwas Besonderes sein wollten. Ihre offensichtliche Geltungssucht ödete mich jetzt schon an, wenn ich ganz ehrlich zu mir war.

Ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl würde ich also zunächst vorschießen müssen, wie die Anzahlung auf einen Kredit. Ich würde es mimen müssen, wie die Neue auf einer Schauspielschule.
Ich dachte mir: Komm, fake it ’till you make it – und blieb.

 

Spoiler:

In Wien, der Stadt, in der ich meinen großen Neuanfang geplant hatte, wo mein Leben eine Zäsur erfahren, sich einmal komplett häuten und dann wenige Zeit später als wunderschöner Schmetterling in den Himmel neuer Möglichkeiten emporsteigen sollte, hielt ich es genau dreieinhalb Monate aus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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