Parole Brandi: Der Duft der Freiheit und der Muff davor

Unsere Kolumnistin erfährt in ihrer Traumstadt Wien, dass man auch im Paradies nicht lang nach vergifteten Äpfeln suchen muss

Alles riecht. Auch Straßen. Man könnte mich mit verbundenen Augen auf der Semerteichstraße in Dortmund-Hörde absetzen, und ich würde es wissen, einfach, weil ich es an diesem Geruch nach billigem Waschmittel und westfälischem Asphalt erkennen würde.

Im Jahr 2020 begab ich mich immer der Nase nach auf die Suche nach dem guten Leben und landete, angezogen vom Duft nach Gebäck, folgerichtig in Österreich. Ich stand ungefähr auf dem Knotenpunkt des 48. Breitengrads mit dem 16. Längengrad in einem grauen Hausflur vor der gesichtsgelifteten Frau, die sich anschickte, meine Vermieterin zu werden, und ich versuchte eine Choreografie aus Lächeln und Auf-die-Schuhe-Gucken, um Zeit zu gewinnen.

Warum fiel es mir so schwer, diese Frage zu beantworten?

Jedes Mal, wenn sie jemand stellte, traf sie mich vollkommen unvorbereitet. Das erschreckte mich, und ich stellte mir vor, dass es Anteile in uns gibt, die, wenn wir sie einmal ausleben, so wenig zu uns zu passen scheinen, dass es uns schlicht die Sprache verschlägt, wenn wir danach gefragt werden.

„Und warum Wien?“, hatte diese gut situierte Dame in der hellen Steppjacke mich mit wachen Augen und diesem gelangweilten Katzen-Akzent gefragt.

Warum nicht? wäre die passende Antwort gewesen.

Verantworte dich!

Die Frage „Warum Wien?“ war wie ein Pistolenlauf, den jemand auf mein Leben richtete, dabei sehnte sich mein Leben doch gerade nach nichts mehr als nach Leichtigkeit und Freiheit. Auf den Schwingen eines Kolibris wollte ich meine Zehen mal hier hinein tauchen und mal dorthinein, wollte ich wieder lernen, unsicher in einer fremden Umgebung zu sein, meine Augen und Ohren zu öffnen für Orte, an denen ich noch nie gewesen war, um ihre Beschaffenheit zu erkunden, ihr Aroma zu schmecken, ihre Bewohner zu untersuchen …

Aber wie es immer so ist im Leben, kaum erobert mensch sich den Zugang zur Leichtigkeit zurück, kommt irgendwer und sagt: „Verantworte dich!“

Zurück im Hausflur stotterte ich: „Ach, ich brauche irgendwie dringend einen Tapetenwechsel, habe jetzt zehn Jahre in Berlin gelebt und fand Wien einfach schon immer ganz, ganz toll…“

Das war gelogen.

Das wächserne Vogelgesicht der Vermieterin blieb in seinem Lächeln eisern eingefroren. Zu spät bemerkte ich, dass sie meine Antwort gar nicht interessierte.

Sie: „I bin da im Grrunde ganz dolerand müssen’s wiss’n, i mog nur net so a Vermischung der Völker, wenn’s mi versteh‘n?“ Herausfordernd sah sie mich an.

Da verlor ich endgültig den Faden. Vermischung der was? Die Dame beugte sich verschwörerisch vor.

„Die Türken.“ Sie richtete sich auf und das Lächeln spannte sich über ihr Gesicht wie ein Bettlaken.

„Des hob i net gern, wenn’s da a Vermischung gibt. Aber kommen’s mit, i zääg Ihner jetzt da mal die Wohnung!“
Mich fröstelte leicht, während ich hinter der Dame her die breiten Steinstufen des alten Wiener Hauses hochstieg.

Vorhölle, möbliert

Oben angekommen öffnete sich die Tür, und ein schüchtern wirkender Mann in meinem Alter bat uns in die Wohnung. Wir zwängten uns durch einen Flur, der durch einen massiven Kleiderschrank an der linken Wand bestach. Dann ging es durch die Küche. Auf dem grauen Boden lag ein noch grauerer Teppich. Die Einbauküche war so scheußlich, dass ich sie ganz aus meinem Gedächtnis gestrichen habe. Die Vermieterin plapperte die ganze Zeit unentwegt Unverständliches mit dem jungen Mann und rief mir zwischendurch die Namen der einzelnen Wohnbereiche zu: „Der Flur!“ „Die Küche!“ „Das Wohnzimmer!“

Ich folgte also den beiden von der Küche ins Wohnzimmer. Der Boden war das Beste, was sich an diesem Raum finden ließ, er war aus einem hellen Laminat. An einer der Wände wiederum war eine Tapete, auf die eine graue Ziegelsteinwand gedruckt war. Dies in Kombination mit den weißen Spitzengardinen, die hier oben durch die geöffneten Fenster wehend auf ein Backsteingebäude wiesen, vor dem eine riesige, dunkle Fichte stand, hatte eine fast körperliche Abwehrreaktion von mir zur Folge.

Fassungslos stand ich in diesem Raum und es wurde nicht besser, nachdem sie mir das Schlafzimmer mit dem rosa Steppbett (sie vermietete möbliert) zeigten, neben dem ein silbern verschnörkelter Schrank stand, an dem selbst hartgesottene Neuköllner Muttis schnurstracks vorbeigehen würden. Immerhin, das Bad war okay und verfügte außerdem über eine Badewanne. Ein unschönes Bild stieg dennoch vor meinem inneren Auge auf, wie ich dort im heißen Wasser liege, mit bleichem Gesicht, und das Blut aus meinen Handgelenken auf den grau gefliesten Boden tropft …

Baba!

„Danke, ich melde mich bei Ihnen!“, flötete ich so künstlich wie ich nur konnte, als wir uns unten vor der Haustür verabschiedeten. Über das eiserne Lächeln der Dame hatte sich ein zarter Film aus Säure gezogen. Und obwohl wir beide die Abschiedschoreografie peinlich genau einhielten, wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich durchschaut hatte, dass sie mir als Wienerin immer einen Schritt voraus sein würde in Dingen, für die ich noch keine Namen hatte.

Als ich gedankenverloren durch den Septembernachmittag in Richtung Zentrum ging, bemerkte ich den leisen Hauch eines neuen und doch altbekannten Geruchs in meiner Nase. Es war der Duft der Freiheit.

 

 

 

 

 

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