Parole Brandi: Bringt uns die Musik zum Weinen oder ist es die Welt?

Unsere Kolumnistin wurde in der U-Bahn eiskalt von einem Sheryl-Crow-Song erwischt. Es gab Tränen.

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Draußen weinen ist nicht schön. Leute können einen dabei sehen, wenn es in der U-Bahn oder auf der Straße passiert, und damit ist es mit dem Weinen ähnlich wie mit dem Klavier üben: Da willst du keine Zeugen. Warum das so ist, weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich fühlt es sich einfach zu ungeschützt an, diese brüchige Seite von sich zu zeigen. Obwohl einem rational klar sein müsste, dass die Beobachtenden ihre eigenen Probleme und Sorgen haben. Am Ende steckt ja jeder Mensch mit seinem Kopf tief in seinem eigenen Arsch, also what the fuck?

Aber trotzdem. Öffentlich weinen ist irgendwie ungut. Man läuft herum wie eine offene Wunde.

Letztens habe ich ein Interview gefunden, das Mike Birbiglia mit Stephen Colbert geführt hat. Und das hat eine freie Assoziationskette in mir angestoßen.

Mike Birbiglia fragt Colbert, welcher Song ihn denn zum Weinen bringt. Und Colberts Antwort ist doch original: „Is there a song that doesn’t make me cry?“

Männerlawine vs. Sheryl Crow

Apropos: Vor ein paar Wochen wurde mir ein Live-Album von Sheryl Crow bei TIDAL reingespült. Und vielleicht lag es an der immer brüchiger werdenden Weltlage, vielleicht auch am braun-grauen Januarwetter, aber als ich in der U-Bahn saß und die Live-Version von „Strong Enough“ hörte, strömten mir die Tränen die Wangen runter. Wie Marcel Proust biss ich in eine Madeleine, nur aus Klang. Ich war wieder fünfzehn und stand mit meinem Vater und seinen Freunden im Kreis in unserem alten Wohnzimmer bei der Bandprobe.

Papa an den Drums, sein mittlerweile verstorbener Freund Uli an der Gitarre. Wer noch dabei war, verliert sich in mäandernden Gesichts-Schemen. Jedenfalls stand ich da und hatte der amerikanischen Männerlawine aus Typen wie Willie Nelson, John Hiatt, Lyle Lovett oder Steve Earle nur einen einzigen Song entgegenzusetzen. Einen Song von einer Frau, die sich ihre Sporen verdient hatte, als Backgroundsängerin von Michael Jackson zum Beispiel und als talentierte, ziemlich lässige Songwriterin. Als kompetente, gleichwertige Vertreterin der amerikanischen Musiktradition, von herber Schönheit und zeitloser musikalischer Qualität: Sheryl Crow.

Schutzraum Country-Song

„Strong Enough“ war mein Schutzraum in den Männerbands meiner Jugend. Hier konnte ich meine Vorliebe für spieluhrartige Gitarrenriffs hinter dem chromglänzenden Gütesiegel des Country verstecken. Hier trug meine feminine Melancholie schwere Cowboystiefel. Hier erzählte Crow davon, dass sie sich fühlt wie ein Stück Dreck, weil sie selbst nicht mehr weiß, an wem es liegt, dass sie in ihrer Beziehung ständig die Fassung verliert. Beinahe trotzig flüchtet sie in der titelgebenden Zeile in einen Appell: Bist du stark genug, mein Mann zu sein? Was ja nichts anderes heißt als: „Hältst du so eine wie mich überhaupt aus?“

Meine damals mit erst fünfzehn Jahren schon erschreckend realen, privaten Themen fanden so in einem Trojanischen Pferd des Country ihren Weg in die Männerdomäne meines Vaters. Ich durfte in seiner Band Keyboard spielen und manchmal einen Song singen.

Ob diese Erinnerung stimmt, ich weiß es nicht. Haben wir „Strong Enough“ damals in dieser Bandkonstellation wirklich gespielt? Es ist auch nicht wichtig. Wir haben andere Songs von ähnlichem Kaliber gespielt, zum Beispiel „St. Teresa“ von Joan Osborne. Auch ein Song, der eine eigene Kolumne verdient.

Welt vs. Song

Entgegen der Annahme einiger meiner Freund:innen verliebe ich mich ja nicht oft, aber Stephen Colberts Frau kann ab jetzt froh sein, dass ihn und mich ein halber Erdball trennt.

Seine Antwort auf die Frage, warum er so viel weinen müsse, war (frei übersetzt): „Es ist die Spannung. Die Spannung zwischen der grausamen Welt, die immer grausamer zu werden scheint und etwas zartem, schönem, was einen berührt. Diese Spannung treibt mir fast täglich die Tränen in die Augen.“

Ich versuche in Zukunft vorsichtiger zu sein bei der Musikauswahl, wenn ich U-Bahn fahre. Ich will wirklich niemanden beunruhigen.