Papa, es gibt MP3s!
Wie soll man sich das vorstellen? 20000 Lieder passen auf einen iPod, das zugehörige Video hatte schon sieben Millionen Zugriffe, und auf Myspace.com sind Anfang April 70113155 Nutzer aktiv, von denen schon 39 928 in der Freundesliste von Morrissey stehen. Mich erinnert das immer an Berichte von Torten-Weltrekorden (75 Eimer Schokolade, 400 kandierte Kirschen) und Rock-Tourneen „vor Punk“ (34 LKWs, 15 jamaikanische Köche). Weil es – zumindest außerhalb des weißrussischen Staatsfernsehens – doch ungewohnt ist, dass nicht nur die reine Beliebtheit bestimmer Sachen durch Zahlen belegt wird, sondern auch ihre hohe kulturelle Bedeutsamkeit.
Gerade die iPods sind ja hungrige kleine Dinger, die Verben „saugen“ und „fressen“ werden oft verwendet, wenn in Grundsatzreden die völlig neue, komplett veränderte Art und Weise erklärt wird, wie wir heute Musik hören. Kurz: Wer für mehr als die Flatrate bezahlt, ist selbst schuld, weil es allen Pop umsonst gibt, den man eventuell brauchen könnte. „Physischer Tonträger“ klingt wie „physische Beschwerden“, und die Netznutzer haben Autoritäten wie Talentsucher und Plattenfirmen längst wie doofe Sonnenkönige gestürzt. Die Myspace-Community, ihre Bedeutung für die Musikkultur, das duftet so extrem nach Zukunft, dass man den Geruch kaum mehr aus den Kleidern kriegt.
Dass Myspace vor allem eine Einrichtung für Leute ist, die viel zu viel Zeit haben, dass es hinter dem Weltweit-Freunde-Ideal eigentlich nur darum geht, die Fotos mit den tollsten Frisuren in die Liste zu bekommen – das wären die lahmsten Argumente, mit denen man Neid, Technikfeindlichkeit und Zukunftsangst kaschieren könnte. Viel interessanter: Was würde es für den Pop denn wirklich bedeuten, wenn das alles stimmt, wenn die Musik bald nur noch über Myspace, in Blogs und Podcasts läuft?
Die bis zum Erbrechen bemühten Beispiele waren zuletzt ja die Bands Arctic Monkeys und Clap Your Hands Say Yeah – die einen wegen zirkulierender MP3s, die den derzeitigen Ruhm begründeten, die anderen wegen wahlweise zwanzig-, dreißig- oder fünfzigtausend CDs, die sie über Online-Bestellungen verkaufen konnten. Im Prinzip also nichts, was den Grundfunktionen der angeblich röchelnden Musikindustrie widerspricht: Früher überspielte man Kassetten und schrieb Postkarten, heute geht es halt schneller. Allein die Schwarmintelligenz der Internet-User kann so etwas niemals leisten. Und ob man nun das Pitchfork-Netzmagazin liest oder auf Papier den „New Musical Express“, ist nur eine Vertrauens- und Geschmacksfrage.
So reaktionär das jetzt klingt: Als Speicher für Musik, als Plattform für ein paar Meinungsführer, als Datenbank für Leute, die eh schon wissen, wo sie suchen müssen, ist das Internet großartig, aber als Medium, das nach eigenen Regeln neue Dinge hervorbringt, einordnet und etabliert, versagt es völlig. Wer einfach nur unbestimmt große Mengen von Gratis-MP3s braucht, weil sein iPod zu leer und langweilig ist, wird hier selbstverständlich genug finden. Adrian North, Musikpsychologe der Universität Leicester, hat kürzlich in einem Aufsatz festgestellt, dass die unbegrenzte Verfügbarkeit von Pop dazu führt, dass Menschen das alles immer passiver und gleichgültiger konsumieren – schlecht formuliert, aber er hat recht.
Der eigentliche Grund: Alle Ereignisse, die es an einem virtuellen Ort wie dem Internet geben kann, sind sich untereinander derart ähnlich, dass man den heiteren Bürohumor-Hype um das „Sonnenlischt‘-Video der Grup Tekkan von seiner Qualität her kaum von der Arctic Monkeys-Hysterie unterscheiden könnte – wenn an der entscheidenden Stelle nicht doch wieder die alten Medien übernommen hätten. Die notorischen Clap Your Hands Say Yeah seien im Netz schon längst Schnee von gestern gewesen, als sie endlich mal auf Tour kamen, schrieb ein kluger „taz“-Autor. Stimmt, aber was heißt das? Dass die Band das Aufsehen gar nicht wert ist? Oder nur, dass die Communities mit ihrer verfluchten Schnelligkeit und geringen Aufmerksamkeitsspanne nicht fähig sind, irgendetwas länger festzuhalten? Oder ist das gerade der Witz an der Sache?
Darüber muss man sich nur im Klaren sein, wenn man das Ende der zentralisierten Popkultur herbeisehnt: Ereignisse im alten Sinn wird es nicht mehr geben. Wer im MP3-Blog eine Woche zu spät kommt, wird bloß noch tote Links finden. Ein Nick-Drake-Vinyl wartet wenigstens, bis man merkt, dass es wichtig ist.