Osama und die Börse
Ob Islam oder Kapitalismus, das Theaterprojekt Rimini Protokoll schreckt auch vor komplexen Realitäten nicht zurück.
Im letzten Jahr wurde fleißig über den Islam diskutiert. Nicht nur Thilo Sarrazin und die Gäste von Anne Will hatten dazu stets eine klare Meinung – fast jeder von uns glaubte zu wissen, wie es sich verhält mit den Moslems und ihren Hinterhof-Moscheen. Dann sitzt man im Theater, die Lichter gehen aus, und man spürt doch wieder, wie fremd einem diese Kultur ist. Von der dunklen Bühne weht der Gesang eines Muezzins in den Saal – klagend, wehmütig und ein wenig enervierend. Aus verschiedenen Ecken des Raums stimmen weitere Gebetsrufer mit ein. Die Dunkelheit vibriert im leicht versetzten Tremolo.
Das bürgerliche Publikum in der Hamburger Theaterfabrik Kampnagel fremdelt ein wenig und weiß nicht so recht, wie es sich verhalten soll. Stefan Kaegi, der Regisseur dieses Stücks mit dem Titel „Radio Muezzin“, kennt diesen Effekt: „Im Unterschied zu unseren anderen Stücken ist es bei, Radio Muezzin‘ immer sehr still im Publikum“, so der 38-jährige Schweizer, der in Zürich Kunst und in Gießen Angewandte Theaterwissenschaften studierte. „Man sieht da einen Menschen, der große Ähnlichkeit mit Osama Bin Laden aufweist, und denkt:, Jetzt bloß nichts falsch machen!‘ Es dauert eine ganze Weile, bis über die kleinen ironischen Feinheiten in den Erzählungen der Muezzine auch mal gekichert wird.“
Kaegi bildet zusammen mit den Regisseuren Helgard Haug und Daniel Wetzel das Projekt Rimini Protokoll, das mit seinem dokumentarischen Theater mittlerweile weltweit erfolgreich ist – von Singapur über Warschau bis nach Arizona. Doch die Basis bildet das Berliner Theater Hebbel am Ufer.
Dort zeigen sie spektakuläre Inszenierungen wie „Best Before“ – ein Videospiel für 200 Theaterzuschauer. Oder „100 Prozent Berlin“, wo 100 Berliner auf 100 Quadratmetern Bühne höchst unterhaltsam an der Unmöglichkeit scheitern, einen objektiven gesellschaftlichen Querschnitt darzustellen. Für „Heuschrecken“ baute Stefan Kaegi ein riesiges Terrarium in den Theaterraum. Zu sehen gab es nicht etwa ein ironisches Stück über Investmentbanker, sondern tatsächlich afrikanische Wüstenheuschrecken, die Kaegi über zwei Monate im Schauspielhaus züchten ließ. Forscher diskutierten dazu über zukünftige Lebensformen, und der Musiker Bo Wiget hatte Gitarrensaiten durch das Terrarium gespannt, die bei jeder Berührung durch die Insekten Geräusche zwischen Neuer Musik und Hardrock-Gitarrenriffs von sich gaben.
Das aus der Kunst bekannte Prinzip des Readymade wird in solchen Stücken auf das Theater angewendet: Für „Hauptversammlung“ ermöglichten Rimini Protokoll 200 Berlinern den Zutritt zur Aktionärsversammlung der Daimler AG: „Da musste man auch als Zuschauer einiges an Engagement zeigen, sich schon Wochen vorher anmelden, weil wir ja für die Leute Aktien kaufen mussten, um den Zutritt zu ermöglichen“, berichtet Stefan Kaegi. „Man guckt bei unseren Stücken nicht aus einem dunklen Zuschauerraum auf eine geschlossene Welt, die in sich logisch funktioniert. Theater ist für mich eher ein kommunikativer Akt, wo man, wie bei, Radio Muezzin‘, Menschen von der anderen Seite der Globalisierungskette sehr nahe kommt. Es ist vielleicht das Gegenteil von Fernsehen. Das gaukelt einem nur vor, dass man eine ägyptische Realität bis ins Wohnzimmer geliefert bekommen kann.“
In den Stücken des Rimini Protokolls gibt es keine Schauspieler, sondern authentische „Experten des Alltags“. In diesem Fall sind es vier Muezzine und ein Ingenieur für Radiotechnik, die ihr eigenes Leben rekonstruieren und so zeigen, dass es den Islam nicht gibt, sondern stattdessen ein Durcheinander von Stimmen, Facetten des Glaubens und menschlichen Sorgen.
Im Theatersaal von Kampnagel bekommt man einen ziemlich guten Eindruck von der gewaltigen Kakophonie, die die 30.000 Moscheen und die entsprechende Zahl von Muezzins in Kairo mehrmals am Tag veranstalten. Zu viel Lärm für eine moderne Metropole, findet das ägyptische Ministerium für religiöse Angelegenheiten. In Zukunft soll deshalb nur noch jeweils einer von 30 Auserwählten über einen Radiosender zur Andacht rufen – live, so wie es der Koran verlangt. Doch Tausende von Muezzins werden auf diese Weise verstummen.
Auf der mit Teppichen und großen Ventilatoren ausgestatteten Bühne steht mittlerweile ein untersetzter, blinder Mann in Socken. Er ist Koranlehrer und Muezzin einer winzigen Moschee in Kairo. In einem hart klingenden Arabisch stellt er sich vor – sogenannte „Übertitel“ besorgen die Übersetzung. Er erzählt von seiner Arbeit, seiner Familie und dass er jeden Tag mit dem Minibus zwei Stunden zur Moschee fährt.
Auf drei Projektionswänden laufen dazu Bilder und Videos, die seine Erzählungen illustrieren. Zwei weitere Muezzine kommen auf die Bühne, später gesellt sich noch ein vierter dazu, und schon bald ergibt sich eine Art Choreografie. Ein Waschritual zeigt Gemeinsamkeiten – aber auch die individuellen Unterschiede: Der Bauernsohn, der täglich den Teppich seiner Moschee saugt, trifft auf einen Vizeweltmeister im Koranzitieren, der auch als Immobilienmakler und Gewichtheber erfolgreich ist.
Als „Radio Muezzin“ nach 90 Minuten zu Ende ist, hat man Dinge erfahren, die vielleicht nicht für eine Meldung in der „Tagesschau“ gut sind: dass der Beruf des Muezzins eine gute Alternative zur Arbeitslosigkeit ist oder dass auch fromme Moslems aus ästhetischen Gründen mal auf einen Vollbart verzichten.
Die Probleme der Muezzins von Kairo werden dadurch ebenso wenig gelöst wie die deutschen Debatten über Integration. Doch die Angst vor Gebetsrufern, die aussehen wie Osama Bin Laden, verschwindet sehr schnell, wenn sie schüchtern von der Bühne winken, um sich für den Applaus des Publikums zu bedanken.