Ornette Coleman (1930-2015)

Wenn eine Aussage mit drei Ausrufezeichen versehen ist, handelt es sich in aller Regel mindestens um eine Übertreibung, nicht selten um eine Lüge. Einzige bekannte Ausnahme: „Something Else!!!“, der Titel eines Jazzalbums aus dem Jahr 1958. Es stammt von einem bis dahin ziemlich erfolglosen 28-jährigen Alt-Saxofonisten aus Fort Worth, Texas, der in einem Kaufhaus in Los Angeles als Aufzugführer jobt, und sich nach Feierabend im Selbststudium Harmonielehre und Musiktheorie aneignet. Seit ihm auf der Bühne ein über sein unorthodoxes Spiel erboster Zuhörer sein Instrument zertrümmert hat, spielt er auf einem billigen Plastiksaxofon, das schließlich zu seinem Markenzeichen wird. Während die Jazzwelt gespalten ist zwischen dem coolen Jazz der Westküste und dem fiebrigen, aus Rhythm & Blues und BeBop gegossenem HardBop der Ostküste, der Mainstream die harmonische Verfeinerung sucht und die Avantgarde die Abstraktion, bedient Coleman sich bei Blues und Folksongs, erschafft eine harsche, raue und mitreissende (Afro-)Americana, die das moderne urbane Leben in Klängen abzubilden scheint. Er kennt die Tradition und hört die Gegenwart.

Dass „Something Else!!!“ für heutige Ohren nicht mehr so außergewöhnlich extraterrestrisch klingt, liegt daran, dass Coleman die Musik in den Folgejahren nach seiner Vision noch viel radikaler neu erschuf, die Grenzen des Jazz neu vermaß ohne dabei allerdings von seinem melodischen Fundament abzurücken. „Tomorrow Is The Question!“, „The Shape Of Jazz To Come“ und „Change Of The Century“ hießen die folgenden Platten. Der fabelhafte Trompeter und Kornettist Don Cherry begleitete ihn von Anfang an, ab dem dritten Album stand das klassische Quartett mit Charlie Haden am Bass und Billy Higgins am Schlagzeug. „This Is Our Music“ nannten sie ein Album von 1961 selbstbewusst und völlig zu recht, denn niemand sonst spielte diese Musik. Die zweite Platte des Jahres, „Free Jazz“, war eine „Collective Improvisation“, wie es im Untertitel heißt. Man hört zwei Quartette– eins auf dem linken, eins auf dem rechten Kanal – rhythmisch synchron, abwechselnd solierend, sich mehr oder weniger frei kommentierend.

Der Albumtitel wurde bald zum Inbegriff eines ganzen Genres. Zumindest im Fall Coleman ein Missverständnis, denn große Teile seiner Musik sind keineswegs frei, folgen– wenn auch idiosynkratischen – Regeln. Harmolodics nannte er sein Hybrid aus Komposition und Improvisation, das der Keyboarder Joe Zawinul mal so zu erklären versuchte: „niemand soliert, alle solieren“. Schien jedenfalls zu funktionieren: Nirgendwo klingt die Verschmelzung von Weltmusik, Rock-Praktiken und Jazz so aufregend und elektrisierend wie auf „Science Fiction“ von 1971 und „Dancing In Your Head“ von 1976, auf dem erstmals Colemans Fusion-Band Prime Time zu hören ist. 2007 bekam er für sein beim Enjoy Jazz Festival in Ludwigshafen aufgenommenes Album „Sound Grammar“ den Pulitzer Prize for Music, sein letztes Studioalbum, das im vergangenen Jahr erschien, trägt den Titel „New Vocabulary“.

Bis ins hohe Alter war Ornette Coleman ein Schöpfer der Sprache, die sich Jazz nennt, bis zum Ende war er something else!!! Am 11. Juni ist Ornette Coleman im Alter von 85 Jahren in New York City gestorben.

 

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates