Orchestrierte Provokation: Father John Misty im Londoner Barbican
Unser Autor Robert Rotifer schreibt über das einzige Konzert des Amerikaners in Europa für 2022
Es gab eine Zeit, da war es weithin verhasst, das Londoner Barbican mit seinen Waschbeton-Fassaden und labyrinthisch verwinkelten, braun verfliesten Fußwegen, die die Menschen zwingen, den Launen des zynischen Architekten treppauf, treppab bis zum mutwillig verborgenen Eingang der unterirdischen Konzerthalle zu folgen. Heutzutage dagegen begegnet man dem brutalistischen Anti-Charme des Gebäudekomplexes mit einer Art perversem Genuss.
Irgendwo in diesem Intro verbirgt sich vielleicht eine Allegorie auf den Star, der an diesem Abend die große Halle des Barbican Centre füllt, begleitet von der circa 40-köpfigen Britten Sinfonia, die als erste die Bühne betritt, und einer achtköpfigen Band. Im Hintergrund ein Samtvorhang, der je nach Beleuchtung seine tiefen Farbtöne wechselt, und sechs große, runde Scheinwerfer auf Chromständern, wie vor hundert Jahren.
Das Orchester trägt schwarz, die Band allerhand Farben, darunter Anzüge aus Samt in Siena und weißer Gabardine. Es enttäuscht ein wenig, als Mr Tillman selbst schließlich in unglamouröser Aufmachung aus dunkelgrauen, eng gesäumten Hosen, weißem T-Shirt, allzu kurzem Zehnerjahre-Sakko, roten Socken und schwarzen Schlüpfern auf die Bühne schlendert – der Vollbart säuberlich getrimmt, das Haar fast stoppelig kurz. Von unserem Platz oben auf dem zweiten Balkon aus kann man den Ansatz einer Glatze auf seinem Hinterkopf erkennen, der ihn zu diesem Schritt bewogen haben mag. Ob er sich bei all dem sonstigen Aufwand dieser einmaligen Aufführung nicht ein wenig mehr ins Zeug legen hätte können? Ein Gedanke, der sich an diesem Abend nicht zum letzten Mal aufdrängt. Andererseits gehört die arrogante Fassade natürlich zu jener übersteigerten Persona des Father John Misty, hinter der Josh Tillman seine Verwundbarkeiten versteckt. Und dieser Act ist kein fauler, denn er funktioniert nur in Kombination mit einer unangreifbar fehlerlosen Performance. In den folgenden zwei Stunden werden sich weder Tillman, noch seine Band oder das von Jules Buckley geleitete Ensemble eine einzige erkennbar falsche Note leisten. Dabei macht letztgenannter Beau in schwarz mit dunklem Bart und Gillet, wiewohl er dem Publikum den Rücken zukehrt, allein schon durch das rhythmische Schwingen seines knackigen Pos dem eher statischen Hauptdarsteller über weite Strecken ernsthaft Konkurrenz.
Gleich vom Eröffnungssong „Funtimes in Babylon” weg besteht eine klare, durch Plexiglasscheiben verstärkte Trennung zwischen Band und Orchester. Die zwei Ensembles spielen in perfekter Synchronität, mehr parallel zu- als miteinander. Einmal ruft Tillman immerhin anerkennend „The Britten Sinfonia!“ und deutet in deren Richtung, aber im Großen und Ganzen behandelt er sie wie eine lebendige Orchesterspur (was in seiner Dekadenz dann allerdings auch wieder was Stimmiges hat). Die berüchtigt trockene Akustik des Barbican trägt zu diesem Eindruck das ihre bei, der Klang der Streicher erreicht die Halle nur ausgedünnt in seiner verstärkten Nachempfindung. Besser setzten sich die Bläser durch, die zum Beispiel „Chateau No. 4“ einen launigen Touch von Mariachi verleihen. Die derart gelockerte Atmosphäre scheint sich auch auf Tillman zu übertragen. „Ich hatte für die ersten zwei, drei Songs meinen Hosenschlitz offen”, lässt er uns ganz im Vertrauen wissen. Langsam beginnt er aus sich herauszugehen, und die Freiheit, großteils ohne Gitarre um den Hals zu singen, zu kleinen Spaziergängen an die Ränder des Scheinwerferkegels zu nützen. Zu manchen der neuen Songs liefert er charakteristisch hypersarkastische Ansagen. „Q4“ etwa sei die Geschichte einer Autorin, die das Leiden ihrer schwer kranken Schwester als Material für ihren Roman „kannibalisiert.“ Der Song sei von jenen unglaublich traurigen Plakaten inspiriert, die man immer in Los Angeles auf der Straße sehen könne, und die einem Beschreibungen menschlichen Elends als „zutiefst witzig“ anpreisten. Dabei wird in der Live-Darbietung der Nummer klar, wie nahe dieser vermeintliche Zynismus am intim Konfessionellen streift: „This ironic distance kept her sane / While her vessel sailed away / It was all very literary.”
Und die Leute, zu denen Father John Misty singt, verstehen das genau. In der Welt der (sozialen) Medien gilt er als problematische Figur unter latentem Misogynie-Verdacht, aber sein Publikum hier, fast durchgehend Menschen zwischen 25 und 40, die meisten von ihnen vermutlich in „kreativen“ Berufen, Frauen, Männer oder non-binär, genießt ganz offensichtlich die provokanten Ambivalenzen seiner Texte. „Yeah!“ ruft eine Frau von hinten ganz verzückt, als er seine Zeile aus „Pure Comedy“ über „sacred texts written by woman-hating epileptics” singt. Die neuen Songs halten dabei durchaus mit, insbesondere das als vorletztes Lied gespielte „The Next 20th Century“ mit seiner Randy-Newmanesken Perspektive des nicht nur unzuverlässigen, sondern gewollt unerträglichen Erzählers. „Recite your history of oppression, babe/While you are under me“, singt Tillman, und dann, direkt ins Weiße der Augen der Barbican-Klientel: „I see ya / You student debtors.“
Die versammelten Studiengebührenverschuldeten sehen ihn auch und lieben ihn zurück. Bei „I Love You, Honeybear“ steht dann der ganze Saal, und das fatalistische Dreierpack der Zugabe („Nancy From Now On“, „Things It Would Have Been Helpful to Know Before the Revolution“, „Holy Shit“) gibt Londons schicker junger Intelligenzija schließlich den Rest. Sogar einer der Posaunisten ganz hinten klatscht vor lauter Freude über dem Kopf.
Das Toben auf den Plätzen ist überzeugend genug, um Father John Misty noch einmal auf die Bühne zu locken. Bevor die Band sich in eine tight groovende Version von „Date Night“ stürzt, witzelt er: „Wir hatten ein komplexes Arrangement für diese Nummer vorbereitet, aber (mit Nicken in Richtung der Britten Sinfoina) diese Typen kriegten es nicht auf die Reihe, also müssen wir es eben ohne sie spielen.“ Wie gesagt, einfach unerträglich. Ziemlich wunderbar unerträglich.