Ohne Heels im Wüstendreck
Die Zeit, in der beim Coachella-Festival die Indie-Fans unter sich waren, ist vorbei: Längst wollen auch Partystudenten und Hollywood-Mäuse etwas von der Coolness abhaben. Von Anne Philippi
Wir zählen das elfte Jahr. So lange gibt es das Coachella Valley Music and Arts Festival schon, das Mega-Open-Air auf dem Empire Polo Field in Indio bei Palm Springs. Zur Premiere 1999 galt das Wüstenfest – trotz der beträchtlichen Zahl von 25.000 Zuschauern und Headlinern wie Beck, Morrissey und Rage Against The Machine – noch als Insider-Ding, als Hochamt für Fans mit speziellen Interessen und eklektischen Plattensammlungen. Heute kommt längst auch die Laufkundschaft.
„Kalifornisches Woodstock“ nennen einfallslose Kommentatoren das Event, und halb Los Angeles macht sich Mitte April auf den Weg ins Offene, zu den fünf Bühnen, den Kunstinstallationen, T-Shirt- und Hamburgerbuden. Natürlich auch die Paparazzi, die an ungewohntem Ort Paris Hilton, Katy Perry oder Danny de Vito abschießen können. Und das relativ ungehindert: In Coachella als Festivalbesucher fotografiert zu werden, am besten mit Wasserflasche und Riesensonnenbrille in der Hand, ist ein Zeichen von Saucoolness.
Und der elfte Jahrgang hat – das deutet sich bald schon an – mit rund 225.000 Besuchern ein ähnliches Chaospotential wie die gleichzeitig über Europa wabernde Aschewolke. „Letztes Jahr“, sagt ein Festivalfreak, „kamst du überall noch immer irgendwie rein, dieses Jahr ist es unmöglich.“ Und schon am Nachmittag von Tag eins wird in der Lobby des Riviera-Hotels in Palm Springs hart mit Einlassbändchen gedealt. Sehr clevere Gäste „vermieten“ ihr Einlassband – um die 100 Dollar verlangt zum Beispiel Nicole, ein pummeliger, aber geschäftstüchtiger Teenie aus Los Angeles. Ein paar VIP-Bändchen hat sie auch, die kosten 300 Dollar und befähigen die Träger im Prinzip nur dazu, in einem abgesperrten Bereich Drinks kaufen zu können. Mehr nicht.
Nicole hat mit vier Freundinnen das Zimmer neben mir gemietet und thront wie ein junge Puffmutter im Sessel, umringt von ihren Girls und Flaschen mit Billigsekt. „Schick mir eine SMS, wenn du vor dem Einlass stehst“, sagt sie mit einem Tonfall, den sie sich offensichtlich aus schrottigen Pimp-Filmen abgeschaut hat.
Früher Nachmittag, 30 Grad, Tag eins im Riviera. Eine Ahnung bestätigt sich: Hier wird dieses Jahr kein sogenanntes Indie-Publikum einchecken, solches, das noch vor wenigen Jahren den Großteil der Coachella-Crowd ausmachte. Das Spring-Break-Publikum hat übernommen, vergnügungssüchtige Teenager und Mittzwanziger, anlässlich der College-Semesterferien aus dem ganzen Land angereist, um sich in Coachella drei Tage lang wegzuschießen. Pflichtschuldig. Und so weit das aus dem Stand zu machen ist.
Daher auch die Uniform: Flip-Flops, Shorts oder Badehose, Bikinis. In der Montur wird alles gemacht – gefrühstückt, Festival besucht, geschlafen. Das Riviera hat sich für die drei Coachella-Tage sogar eine eigene Room-Service-Karte ausgedacht, damit alles schneller geht und in praktischen Plastiksäcken serviert werden kann.
Poolparty um halb fünf, David Guetta dröhnt aus allen Boxen, erste Hemmungen fallen. Die Area ist vollgestopft mit typischen L.A.-Babes: Haare bis zum Hintern, Jeans-Hotpants, Ray-Ban-Brille, Shirt von Guns N‘ Roses oder Led Zeppelin. Berühmtester Hotelgast (und das sagt uns viel über das Riviera) ist Lindsay Lohan, heute begleitet von Schwester Ali. Sie scheint nicht gut drauf zu sein, alle starren hin und tuscheln: Was ist denn da los? Kein fucking Helikopter zum Polofeld? Die Leute in Lindsays Entourage halten Wodkagläschen in der Hand (nur sie selbst nicht) und blicken finster zurück, wenn ein anderes Mädchen Lindsay schräg anguckt. Bis sie genug hat, aufspringt, zackig davonschreitet – wie man das eben macht, wenn man fürchtet, die Kontrolle zu verlieren. Aber genau deshalb, so stellt es sich in den nächsten zwei Tagen wenig überraschend heraus, kommen die Massen nach Coachella, möglicherweise zu den meisten Festivals der weltweiten Saison: Kontrolle für drei Tage an der Tür abgeben, Zeiträume und Körper vergessen, thank you!
„Gleich ist es sieben, wir müssen los!“ Ein Typ in Badehose drückt seinen Stofftiger, der am Boden liegt, und deutet seiner Freundin an, den Bikini zu wechseln. Er ist sichtlich nervös, wie mittlerweile die meisten der illustren Pool-Gesellschaft.
Heute ist nämlich kein gewöhnlicher Festival-Auftaktabend. Heute nacht tritt Jay-Z auf. Heute nachmittag ist der Rap-Megastar mit einem vergoldeten Flugzeug am Thermal Airport gelandet. Tag eins ist noch nicht mal richtig losgegangen, aber Coachella tickt bereits aus. Wie in der Wochenendplanung vorgesehen.
Um 20 Uhr ist die Straße zum Konzert-Polofeld in Indio schon voller als jeder Highway in Los Angeles am Freitagnachmittag. Kolonnen von SUVs, Jeeps, kaputten Mühlen aus den ganzen USA. Alle pilgern zu Jay-Z. Aber 20 freie Parkplätze für gefühlte 500 Autos – wo sollen die hin? Und (auch daran muss man denken) wie sollen die Besitzer ihre Wagen später jemals wiederfinden? Autos, Menschen, Telefone, der Wüstenstaub verschluckt alles. Es ist der Dreck, mit dem man sich umgehend anfreunden muss, sonst sollte man hier gar nicht erst auftauchen. Die Twittergemeinde wird das 2010er-Festival später #clusterfuckchella taufen – weil es schlimmer war als gewöhnlich.
Gegen elf Uhr nachts ist das Polofeld immer noch warm, drumherum die Wüste, Sterne, der beste Ort für den König von New York. Flutlicht, Jay-Z betritt die Bühne, man verliert gemeinsam die Contenance. Er hat auch die Königin mitgebracht, und Beyoncé stolziert ein, wie aus dem Ei gepellt, in voller Coachella-Uniform: Rockband-T-Shirt, Jeans-Hotpants und Boots. Keine Heels.
Und als die berühmte Sinatra-Zeile in „Empire State Of Mind“ kommt („I am the new Sinatra, and since I made it here, I can make it anywhere, yeah, they love me everywhere!“) ist klar, dass es sich bereits gelohnt hat, das alles auszuhalten. Den ganzen Dreck und Staub in den Haaren, auf der Haut und im Mund.
Tag zwei, so hat mir vor Abflug ein Coachella-Veteran gesagt, „ist nie so gut, da hängen alle durch“. Und tatsächlich, noch gegen Nachmittag ist es gespenstisch ruhig am Polofeld. Bierchen machen die Runde, viele schlafen aus. Tag zwei gehört den Paparazzi, anders gesagt den Stars und Faces aus Los Angeles, die größtenteils wohl nur angereist sind, um sich live auf Coachella fotografieren zu lassen. Und damit die bitter nötigen Coolness-Punkte zu sammeln.
Kelly Osbourne läuft ein, superdünn, mit lila Haaren und neuem Freund sieht sie ihrer Mutter immer ähnlicher. Dita von Teese schaut vorbei, wenig festivaltauglich in Matrosenhose und Top aus den 40er-Jahren, Aufsehen garantiert. Die üblichen L.A.- und London-Girls müssen sich da ziemlich ins Zeug legen, um genügend Klicks abzubekommen: Kate Bosworth, Anne Hathaway, Pixie und Peaches Geldof. Einige von ihnen leiden gut sichtbar darunter, zum ersten Mal in ihrem Leben ohne hohe Schuhabsätze in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Paris Hilton neigt in flachen Schuhen zum Watscheln. Aber in Coachella hat man keine Wahl: Der weiche Sand hat eigene, harte Regeln.
Irgendwann ziehe auch ich dann meine schwarzen Heels aus, die Beine sind schon bis zu den Knien verdreckt, zugesaut vom Wüstenstaub. Es ist gegen neun Uhr. Oder schon zehn? Ohne größere Expeditionserfahrung verliert man in Coachella irgendwann jedes Zeitgefühl, spätestens am zweiten Tag – und das nach nur vier Schluck Wasser. Wie muss sich das erst anfühlen, wenn man richtig viel Alkohol im Blut hat?
Im sogenannten Gobi-Zelt neben der Hauptbühne legt jetzt der bereits erwähnte französische DJ-Star David Guetta auf, das musikalische Pendant zu Designer Christian Audigier und seinem Ed-Hardy-Style: breit erfolgreiches Prolltum. Guetta steht im Anzug auf der Bühne, passt irgendwie nicht ins Ambiente. Die Hände von 1000 High-School-Absolventen fliegen nach oben, die Hälfte der Kids immer noch mit Badehose und Basecap, die Gesichter selig entrückt. Nebenan, unter freiem Himmel, der totale Wake-up-Call. Adrenalinauftritt von The Dead Weather featuring Jack White (White Stripes) und Alison Mosshart (The Kills), die Spring-Break-Jugend kriegt die Münder vor Angst und Staunen nicht mehr zu. Definitiv besser als die eher pathetischen Auftritte von Muse und Faith No More.
Gegen Mitternacht muss man die dreckigen Beine in die Hand nehmen, falls man den Hotel-Shuttle noch erwischen will – doch keiner der Auskunftsposten mit den gelben T-Shirts und den „Ask Me“-Schildern weiß, wo das Ding abfahren könnte. Sie winken ab, halten sich Taschentücher vors Gesicht, der Wüstenstaub ist zu krass. Also ab in die Taxischlange, circa zwei Stunden warten, barfuß, verstaubt, beinahe Streit mit drei Briten, die sich mit mir nicht das Taxi teilen wollen, weil ich eine „German bitch“ bin. Yeah, right! Ein Clinch der Nationen, nachts um vier, mitten in der Wüste.
Um sechs komme ich im Hotel an. Drei Türen weiter liegt ein Hamburger im Flur. Jemand hat ihn verloren.
Früher Nachmittag, Tag drei, Finale. Vor dem Riviera ist die Polizei aus Palm Springs angerückt, Streitereien am Pool, keiner weiß, was passiert ist. Ein Typ mit verwirrtem Blick steht vor der Hotel-einfahrt, bekleidet nur mit T-Shirt und einem Handtuch um die Hüften. Im echten Leben, in Hollywood oder wo auch immer, ist er reich – aber in diesem Moment hat er gar nichts mehr: Kreditkarten verloren, Auto nicht mehr wiedergefunden, barfuß vom Festival zum Hotel gelangt, irgendwie. „Bei nächsten Mal … bringe ich euch alle um“, stammelt er, und schreit seinen Begleiter an, den er wohl das ganze Wochenende lang ausgehalten hat.
Also lieber ab zum Polofeld, denn am letzen Tag hat Coachella noch ein paar große Bands auf Lager.
Heute liegt über dem Gelände eine Wolke aus Cannabis. Ist das etwa der Vulkanstaub? Zwei Darsteller der Serie „Gossip Girl“ werden gesichtet, sie tragen überdimensionale Sonnenbrillen, aber natürlich erkennt sie jeder. Leichte Endzeitstimmung, auf dem Boden Müll, zu viele Bikinis um mich herum. Der Trost des frühen Abends: Charlotte Gainsbourg.
In ihrer Pariser Balmainhose thront sie wie eine Grande Dame auf der Bühne und könnte keinen größeren Kontrast zu all den kleinen Mädchen im Publikum bilden, deren Horizont höchstens bis zu den nächsten Sommerferien oder der nächsten Filmpremiere reicht. Alle stehen sie zu Charlottes Füßen vor der Bühne, Wasserflasche in der einen braungebrannten Hand, iPhone in der anderen. Madame Gainsbourg bringt anämisch und cool ihre Songs, erinnert an die junge Patti Smith und das Beste aus der französischen „Vogue“. Würde versus Wüste: Besser könnte man die inneren Polaritäten dieses sonderbaren Festivals nicht zusammenfassen.
Als die Sonne untergeht, starten Charlottes Freunde von Phoenix, alles rennt hin, die ersten gehen zu Boden. Die anderen warten auf die große Gala zum Schluss, die Gorillaz, Thom Yorke von Radiohead, Flea von den Red Hot Chili Peppers. Alle kommen, alles gut, alle beruhigt. Nur backstage bleibt es brutal. Paris Hilton bahnt sich unsanft den Weg zu Damon Albarn, drückt ihm einen nassen Kuss auf die Backe. Sie kenne ja den mysteriösen Künstler Banksy persönlich, Damon kenne ihn doch auch, und so weiter. Die Schattenseiten des Star-Daseins.
Am anderen Morgen ist es im Frühstückssaal eher leer. Aber erst wenn alle abgekämpft im eigenen Bett angelangt sind, werden sie sich die entscheidenden Fragen stellen: War ich wirklich auf diesem Polofeld? Kam ich barfuß nach Hause? War ich kurz davor, zu trampen?
Dreimal ja! Coachella ist ein schönes, großartiges Chaos. Die beautiful people werden ihren Chihuahuas noch lange davon erzählen.