OFF-Festival: Pop-Expedition in Oberschlesien
Ein Besuch beim Off Festival im polnischen Katowice, das mit dem Charme des Unverbrauchten glänzt
Am Sonntag geht der Party-Pokal an Big Freedia. Der transsexuelle Rapper mit den blond gefärbten Engelslocken und der röhrenden Stimme ist ein Unikum der HipHop-Szenerie von New Orleans. Tiefer Bass, ultraschnelle Beats und das ausgiebige Twerking seiner Tanzcrew gehören zu den Spezialitäten, die auch R`n`B-Königin Beyonce im gemeinsamen Video zu schätzen wusste. Freedia steht in Shorts und flammroten T-Shirt auf der Scena Lesna (Waldbühne) beim Off Festival in Katowice. 15 Fans sollen zum zum Tanzen und Hinternkreisen an seine Seite kommen. Das Publikum lässt sich nicht zweimal bitten. Oben exzessive Körpersprache, vor der Bühne erschallt tausendfach der Schlachtruf „Y`All Get Back Now“.
Keine alltägliche Szene für ein „Indie-Festival“ und sicher auch kein normaler Auftritt im oberschlesischen Industrierevier. Besonders wenn man bedenkt, dass nur wenige hundert Meter weiter Lo-Fi-Messias Ariel Pink seine kunstvoll durchgeknallte Rockrevue zum Besten gibt. Kurz zuvor noch auf der Trojka-Bühne hatte die Brooklyner Alternative-Crew Clap Your Hands Say Yeah ihr 2007er-Album „Some Loud Thunder“ aufgeführt. Die Experimental-Bühne wiederum, untergebracht in einem Oktoberfest-mäßigen Zelt, ist an diesem Abend von eben jenem Ariel Pink kuratiert. Ein Kessel Buntes zwischen Avantgarde und Abgedreht. Der polnische Filmemacher/Musiker Wojiech Baykowski vereint mit dem Rotterdamer Schlager-Pirat Harry Merry. Electro Poetry und Kirmes-Orgel-Songs unter einem Dach.
Cidre aus Polen
Diese ganz spezielle Mischung macht die Qualität des Off Festivals aus, das am Rande von Katowice im lauschigen Dolina Trzech Stawów (Tal der Drei Teiche) stattfindet. Gegründet 2006 vom Musiker Artur Rojek, der vom Potential der derben Industriestadt überzeugt war und sein Projekt mit großer Leidenschaft aus dem Nichts durchgezogen hat. Heute kommen an drei Tagen jeweils 8.000 bis 10.000 Leute auf das Gelände.
Fünf Bühnen für Euro 70,-. Englische und deutsche Wortfetzen deuten daraufhin, dass das sich die Qualitäten des OFF bereits Westen herumgesprochen haben. Entspannte Atmosphäre auf dem überschaubaren Areal, das ausreichend Platz zum Relaxen bietet. Ein weiträumiger Bereich mit Literaturzelt, Platten- und Klamotten-Ständen und einer einer eindrucksvollen Imbisszone zwischen Konsequent Vegetarisch bis zu schlesischer Hausmannkost. Zum Nachspülen ein heimischer Cidre aus alten Apfelsorten. Beim Flanieren hört man die Episode des polnischen Softdrink-Herstellers, eine Art polnische Bionade, der seinen Namen von John Lemon, auf hartnäckiges Betreiben von John Lennons Witwe Yoko Ono, ändern musste. Die Firma heißt nun On Lemon, zu bewundern am Limo-Stand.
Sprungbrett
Dieser Besuch ist natürlich verbunden mit der Bereitschaft unbekanntes Terrain zu betreten. Schließlich sind polnische Popbands gerade erst dabei, 30 Jahre nach dem Ende des Ostblocks, ins internationale Geschäft vorzustoßen. Beim Off Festival werden sie selbstverständlich ins Line Up eingegliedert. Das vielköpfige Folk-Orchester Warsaw Village Band (Kapela ze Wsi Warszawa) etwa, viel umjubelt und prominent platziert vor den Gitarren-Zuckerbäckern von Grizzly Bear, liefert eine weihevolle Ouvertüre für die barocken Brooklyner.
Noch gibt es nicht viele Gelegenheiten, in denen spannende Bands aus Polen die Chance bekommen, vor einem größeren, internationalen Publikum aufzuspielen. Das Off Festival ist für sie auch ein Schaulaufen für Gigs und Kontakte im Ausland. Dabei sind das Dreampop-Duo Coals aus Katowice oder die Krakauer Gitarren-Melancholiker Sonbird ohne weiteres exportfähig. Ob die Death Metaller von Furia, die polnische Frauenband Panieneczki aus Bydgoszcz (Bromberg) oder die Protestpunk-Folkloristen Hanba, die mit Akkordeon, Basstrommel, Banjo und Tuba gegen selbstgefälligen Nationalismus ansingen, sie alle haben ihr Publikum erspielt und sind bereit für mehr.
Europaliga
Konsequenterweise fallen die jeweiligen Headliner der Abende gar nicht weiter als solche auf: M.I.A. setzt mit ihrer DJ- und Tänzerinnen-Crew auf den bekannt energetischen Mix aus Techno, Reggae und HipHop. Charlotte Gainsbourg singt gepflegt in die Nacht hinaus. Und Grizzly Bear verbreitern ihre barocke Soundschichten. Man sollte eher relaxt auf Entdeckungstour gehen und sich auf Unbekanntes einlassen, wie auf die energetische Show der russische Avantgardisten Shortparis aus Sankt Petersburg. Oder sich vom unmittelbaren Gegensatz der US-Psychedelic-Rocker vom Brian Jonestown Massacre und den Trachten geschmückten Frauen der Bulgarian Voices faszinieren lassen, die nur wenige hundert Meter voneinander entfernt mit denkbar unterschiedlichen Entwürfen zu hören sind.
Würde es für „Boutique Festivals“ eine Europaliga geben, wäre das Off mit Sicherheit dabei: Anspruchsvolles Programm, wenig Kommerz, gutes Essen, faire Preise.