Obwohl Holger Czukay eben 65 geworden ist, sehen die Jungen ihn nicht als alten Sack. Weil er Sample-Experimente schon lange vor ihnen gemacht hat
Holger Czukay ist ein seltsamer Kauz. Allein mit seinem Anrufbeantworter schafft er es, die Menschen skurril zu unterhalten: „Hallo, hier spricht die katholische Kirche. Unser Beichtstuhl ist vorübergehend nicht besetzt Für dringende Fälle steht ihnen jedoch unser automatischer Sündenspeicher zur Verfugung. Bitte beichten sie jetzt“ Etwa hundert solcher Sprüche hielt der ehemalige Can-Bassist in seinem Gerät bereit. Neugierige blockierten wochenlang die Leitung. Endlich hat Czukay nun mit Can den verdienten „Echo“ in der Kategorie Lebenswerk bekommen, am 24. März hat er seinen 65. Geburtstag gefeiert.
Erwartungsgemäß nicht mit einem Seniorenkränzchen, sondern mit dem erstaunlich frisch klingenden Album „The New Millennium“. Von hier bis zurück zu Holger Czukays und Rolf Dammers Projekt „Canaxis“, das 1968 zeitgleich mit Cans Monster Mmie“ erschien, gibt es eine klare Verbindungslinie: die Arbeit mit Loops, Tonbandschleifen. Schon in der Frühphase von Can schnippelte Czukay stundenlang Musik auseinander, um sie zu eigenwillig fließenden Stücken wieder zusammenzukleben. Die Technik nahm das SamplingZeitalter um Jahrzehnte vorweg. „Ich nenne es das Dr.-Frankenstein-Prinzip. Die Idee, aus Leichenteilen etwas Neues, Lebendiges herzustellen, fand ich schon immer super.“ Die Arbeit mit manipulierten Tonbändern wurzelt freilich in der ernsten Avantgarde des Kölner „Studios für elektronische Musik“. Dort herrschte in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern der Elektronik-Pionier Karlheinz Stockhausen, und Czukay schwärmt noch heute vom ersten Konzert des Meisters, das er sah: -Plötzlich stand ein Mann auf und rief: ‚Sie wollen hier doch nur schockieren, um damit einen Haufen Geld zu verdienen!‘ Stockhausen antwortete trocken: ‚Was ich tue, mache ich aus rein musikalischen Gründen. Und was das Geld angeht – dafür habe ich eine reiche Frau geheiratet.“
Nach Czukays dreijährigem Studium soll Stockhausen zum Abschied prophezeit haben: „Der wird einmal etwas ganz anderes machen als wir!“ Doch hier täuschte sich der Großmufti der Neuen Musik, denn Can waren der elektronischen Avantgarde oft näher als dem Pop: „Wir konnten einfach keine Rockmusik spielen, das wusste jeder von uns. Unsere einzige Chance lag darin, eine möglichst große Reduktion herbeizuführen, um zu einem charakteristischen Sound zu gelangen.“
Nach dem Ende der Band machte sich der Klangbastler auf die Suche nach neuen Möglichkeiten. Punk war in aller Munde, und durch Vermittlung eines Journalisten traf Czukay in London Jah Wobble, zu der Zeit Bassist bei John Lydons PIL – ein Name, der auf jeder zweiten Lederjacke stand. ,Jah Wobble hatte bei unserem ersten Treffen ein Sixpack dabei, von dem er eine Dose nach der anderen öffnete. Das hat mich zuerst ziemlich genervt“, erinnert sich Czukay. „Doch als wir uns länger unterhielten, hörte das ‚plopp‘ und ,zisch‘ ziemlich schnell auf. Zwei Tage später haben wir in Chinatown ein Studio gebucht und ein paar Stücke aufgenommen.“ Die Zusammenarbeit der beiden erstreckte sich über mehrere Alben, die Single, „How Much Are They?“ wird sogar zum Club-Hit. In den folgenden Jahren experimentierte Czukay mit den unterschiedlichsten Mitstreitern und den exotischsten Instrumenten, Flügelhorn, Diktiergerät, Kurzwellenradio. Es ging längst nicht mehr um Krautrock, Punk, Pop oder New Wave, sondern um den musikalischen Raum dazwischen.
Auf „Rome Remains Rome“ kam selbst Papst Wojtyla zu Wort, wenn auch nur als Sample. Aber Czukay machte da keinen Unterschied mehr, alles ist bloß Material, egal ob im Studio eingespielt oder als O-Ton vorgefunden. Diese postmoderne Einstellung weckt das Interesse der jungen Kölner Technoszene. „Der DJ Sascha Kösch nahm mich mit auf eine Party. Da bekam ich den Schock meines Lebens: Hatte ich die wichtigsten Jahre meines Lebens verschlafen? Es war überwältigend, dass maschinengesteuerte Musik eine solche Power erzeugen konnte.“ Mit Dr. Walker von der Band Air Liquide nahm Czukay 1998 die Doppel-CD „Clash“ auf. Die US-Tour wird ein Abenteuer wie in alten Krautrockzeiten: „In San Francisco spielten wir in einem alten Ballsaal. Das Equipment war zu 70 Prozent ausgefallen und lieferte fast nur noch Störgeräusche. Aber dann bauten wir aus dem ganzen Müll eine derart heiße Geschichte zusammen, dass es die Leute nicht mehr auf den Sitzen hielt. Aus einer verfahrenen Situation etwas Tolles machen – das imponiert den Amerikanern am meisten.“
Wenn Czukay dem Kauz in sich freie Bahn lässt, ist dieser Mann noch zu einigem fähig.