Oasis
Vor 15 Jahren eroberte der geniale Dieb Noel Gallagher mit Bruder Liam die Welt. Es folgte der Absturz, doch nun sind Oasis wieder oben, begonnen hatte alles in Burnage.
Schon auf der Treppe hört man die bekannt blaffende Stimme. Schlagfertig, fest im Ton. Eine Mischung aus irischer Dick-Schädelmentalität und dem Stolz der nordenglischen Arbeiterklasse. Noel Gallagher wird von einem Fernsehteam interviewt und eben hat er sich ein bisschen in Rage geredet. Es geht darum, was einen guten von einem schlechten Songwriter unterscheidet. Für diesen Mann beileibe kein unverfängliches Allerweltsthema, sondern die Frage aller Fragen. Er versteht da wenig Spaß.
Oasis sind in Köln. Am Vorabend gewannen die Citizens, Noels Team seit frühester Kindheit, 3:2 gegen Enschede. Die Verletzung, die sich Gallagher einige Wochen zuvor nach einer Bühnenattacke in Toronto zugezogen hatte, ist ausgeheilt. Anfang nächsten Jahres begibt sich die Band auf ihre bislang umfangreichste Westeuropa-Tournee. Die meisten Hallen sind bereits ausverkauft. Und „Dig Out Your Soul“ ist ihr erfolgreichstes und bestes Album seit „Be Here Now“. Oasis sind am vorläufigen Endpunkt ihrer langen Reise zurück ans Licht angekommen.
Wenig Grund zur Sorge also. Aber jetzt und in diesem Moment gibt es für Noel Gallagher nichts Wichtigeres auf der Welt, als seinen Standpunkt deutlich zu machen. Er wirkt angespannt, wachsam, konzentriert. Er spricht mit der Stimme eines Mannes, der von einem Moment auf den anderen wieder jenen Panzer aus spöttischer Härte anlegen kann, der ihn einst auf den rauen Straßen Manchesters überleben ließ. Die Klamotten mögen seitdem teurer geworden sein und die Sorgen geringer. Aber versucht man ihn auch nur ansatzweise in die Defensive zu drängen, liegt immer noch eine Menge Burnage in seiner Stimme.
Der Stadteil Burnage im südlichen Manchester war der irischstärnmigen Familie Gallagher 1984 zum Zufluchtsort geworden. Jahrelang hatte Thomas Gallagher, ein cholerischer Trinker und Rumtreiber, seine Frau Peggy und die drei Söhne drangsaliert. Besonders hatte er es auf seinen Zweitältesten abgesehen. Noel Thomas Gallagher, geboren am 29.5.1967, hasste seinen Vater – und sein Vater hasste ihn.
Zunächst war Noel ein aufgeweckter, fröhlicher Junge, den alle mochten. Doch mit den Jahren verfinsterte sich sein Gemüt. In der Pubertät litt er an Depressionen, hatte Schulprobleme, nahm Drogen, beging Diebstähle und wandte sich den Hooligans zu. Mitte der Neunziger sagte er, sein Misstrauen gegenüber Autoritätspersonen käme von seinem Vater. „Er wollte mir ständig sagen, was ich zu tun und lassen hatte – dabei kriegte er selbst nichts auf die Reihe.“
Thomas Gallagher schlug Noel und auch den ältesten Bruder Paul, doch aus unerfindlichen Gründen liebte er den am 21.9.1972 geborenen William John Paul Gallagher, genannt Liam. Was freilich weder bedeutete, dass er sich um den Jungen kümmerte, noch dass er davon absah, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Liams Mutter zu verprügeln, die der Junge abgöttisch liebte (was ihm bald den Spitznamen Peggys Shadow einbrachte). Leicht hatte es also auch Liam nicht. Eines Nachts, der Vater war auf Sauftour, schnappte sich Peggy ihre Jungs und das Nötigste zum Anziehen und flüchtete in ein vom Sozialamt zur Verfügung gestelltes Haus in Burnage. Ab da war Noel das Familienoberhaupt.
„Burnage war damals eine Gegend ohne jede Perspektive, es galt das Gesetz der Straße“, sagt Paul Arthurs, den alle nur Bonehead nennen, weil er in der Schule als einziger raspelkurze Haare hatte. Bis er 1999 auf eigenen Wunsch ausschied, war der in der Nachbarschaft der Gallaghers Aufgewachsene zweiter Gitarrist bei Oasis. Außerdem: eine Art Band-Kasper; ein Verrückter, der Liam und Noel in den frühen Jahren schwer imponierte. „Überall waren Drogen und es gab eine Menge Gewalt“, fährt er fort. „Man musste sich an irgendwas klammern, eine Leidenschaft entwickeln, sonst ging man vor die Hunde. Und bei uns war das eben die Musik.“
Ende der Achtziger gründete Bonehead mit seinem Freund Paul McGuigan aka Guigsy am Bass, dem Sänger Chris Hutton und Tony McCarroll die Band The Rain. Eine klassische Hobby-Truppe: Mc-Carroll verfügte über rudimentäre Schlagzeug-Kenntnisse, Guigsy war eigentlich Fußballer, Bonehead arbeitete auf dem Bau und war ein leidlicher Gitarrist.
Nach dem ersten Auftritt von The Rain kam ein aufmüpfiger 16-Jähriger hinter die Bühne, den Guigsy als den kleinen Bruder seines Fußball-Kumpels Noel Gallagher identifizierte. Bonehead schüttelt heute noch lachend den Kopf: „Liam erklärte, wir wären zwar alle nicht gut gewesen, aber am schlimmsten sei der Gesang. Wir sollten Hutton rausschmeißen und uns nach einem anderen Sänger umsehen – dreimal darfst du raten, wer dieser andere Sänger sein sollte.“
Kurz zuvor hatte Liam ein Konzert der Stone Roses gesehen (übrigens dasselbe, auf dem Noel Graham Lambert, den Gitarristen der Inspiral Carpets kennen lernte). Und als Ian Brown die Bühne betrat, war es um ihn geschehen. Auf einen Schlag konvertierte Gallagher vom HipHop- zum glühenden Stone Roses-Anhänger. Dass Browns dürftiges Gesten-Inventar und seine Frisur einen gewaltigen Einfluss auf den Oasis-Sänger hatten, ist bis heute problemlos erkennbar.
Wie ein Besessener sang Gallagher fortan von früh bis spät und kriegte nach einer Weile tatsächlich den Job bei The Rain. Wie meistens in solchen Fällen ist übrigens auch hier die Legende kaum von der Realität zu trennen. Nicht zuletzt die Gallaghers selbst strickten stets eifrig am eigenen Mythos. Da zudem die Erinnerung der meisten Beteiligten differiert, kursieren verschiedene Versionen der Oasis-Geschichte in unbefriedigender Koexistenz. Zum Beispiel die Sache mit dem Namen: Die offizielle Geschichtsschreibung besagt, dass Liam der Band den Namen Oasis gab, den er auf einem Tourposter der Inspiral Carpets im Zimmer seines Bruders gesehen haben will.
„Den Scheiß mit dem Tourposter erzählt Liam immer“, sagt nun Noel. „Es gab eine Ladenpassage namens The Underground Market in Manchester, und in dieser Passage war ein Laden namens Oasis. Dort gab es all die coolen Adidas-Klamotten und Schuhe, die man nur in Deutschland bekam. Sämtliche Fußballfans der Stadt gingen dort ein und aus und deckten sich mit Adidas-Schuhen ein, so auch ich. Daher kommt der Bandname.“ Eine neue Variante also.
Unumstritten ist hingegen, dass The Rain es ohne Noel nicht weit gebracht hätten. „Wir waren keine richtigen Musiker“, sagt Bonehead wahrheitsgemäß.
„Ein gewisses Talent hatten wir schon, und nach einer Weile spielten wir ordentlich zusammen – aber keiner von uns konnte Songs schreiben. Das kam erst mit Noel.“ Für den war die Bitte seines Bruders, der Band beizutreten, ebenfalls ein Segen. Nachdem er dem Hooliganismus abgeschworen hatte und in die aufkeimende Madchester-Szene eingetaucht war (mit Rave konnte er wenig anfangen, aber die Drogen und Partys begeisterten ihn), hatte er einen Job als Roadie der Inspiral Carpets ergattert. Er mochte die Band nicht einmal besonders, und von Equipment hatte er schon gar keine Ahnung. Aber mit den Carpets konnte er die Welt bereisen und das Musikgeschäft von innen kennenlernen. Seine eigentliche Leidenschaft galt jedoch zunehmend dem Schreiben von Songs, der Verfeinerung seiner Fähigkeiten als Gitarrist. Beides konnte er nun mit Oasis ausleben. Er war 24 Jahre alt und stand an der Schwelle einer Weltkarriere.
Nach Noels Einstieg habe man taglich besessen geprobt und bald gemerkt, dass da ein besonderes Talent reifte, wie Bonehead sich erinnert. Tatsächlich hielten sich Oasis schon damals, als sie von den meisten Leuten noch belacht wurden, für die Allergrößten. Der unverzagte Glaube an sich selbst und ihre Musik sollte zu einem wesentlichen Merkmal dieser seltsamen Band werden.
„Confidence is very much a northern english working class thing“, sagt Alec McKinlay. „Wenn du aus so einer problematischen Gegend kommst, kannst du niemandem trauen außer dir selbst, das ist das Erste, was man dort lernt. So sind die Menschen in Manchester.“ McKinlay selbst entstammt mitnichten der Welt, die er da beschreibt, das merkt man sofort. Der Mann ist Bildungsbürger, formuliert mit Bedacht und in wasserklarem Oxford-Englisch. Zusammen mit Marcus Rüssel leitet er Ignition, jene Managementfirma, die seit 1993 die Geschicke von Oasis lenkt. „Wir betreuten damals Johnny Marr, den ehemaligen Smiths-Gitarristen“, erklärt McKinlay in seinem Londoner Büro. Johnnys jüngerer Bruder (andere Quellen sagen: Marr selbst) kam mit einem Demotape dieser Band aus Manchester an, die wir uns unbedingt anhören sollten, so ging es los.“ Und wie es losging: Blitzkarriere, Rekordverkäufe – die Geschichte der folgenden Jahre ist umfangreich dokumentiert (beachten Sie bitte auch unseren Zeitstrahl). Aber die alles entscheidende Frage ist doch: Wie konnte das passieren? Warum wollten Millionen junger Leute auf einmal so sein, wie ein Haufen biertrinkender Proleten aus der Eckkneipe? Die hedonistische Uns-kann-keiner-was-Haltung von Oasis – und nichts war bei dieser Band je wichtiger als die Haltung – passte perfekt zur Aufbruchsstimmung der Zeit. Der Kommunismus war zusammengebrochen, allerorten schickte sich eine neue Politikergeneration an, die Welt in eine sichere Zukunft zu lenken. Vor allem in England war die Stimmung nach dem Ende der Ära Thatcher sonnig bis heiter. Und Oasis waren die ideale popkulturelle Entsprechung für diese Gemengelage. Sie trugen ihr Britischsein demonstrativ vor sich her – das Wort vom Cool Rritannia machte die Runde. So erlebte der sogenannte Laddism – Fußball, Frauen, Bier – eine glamouröse Aufwertung und trat seinen internationalen Siegeszug an. Blur waren vielleicht talentierter und Pulp ganz sicher intelligenter, aber Oasis hatten das größere Identifikationspotenzial. Und das verdankten sie nicht zuletzt Bonehead und den Anderen. Natürlich waren unscheinbare Eckkneipenbiertrinker wie sie nicht direkt etwas Neues in der britischen Rockmusik. Schon David Bowies Spiders From Mars rekrutierten sich aus diesem Milieu, schließlich wurde ein ganzes Genre Pub-Rock genannt. Der Unterschied: Den musizierenden Lads vergangener Epochen wurde meist die Herkunft ausgetrieben, indem man sie in bühnentaugliches Gewand steckte und ihnen den Akzent abgewöhnte.
Oasis aber strotzten zwar vor ungebrochener Virilität, kamen aber ohne Lederhosen und lange Haare daher. Die bis dahin üblichen Insignien des Rock ersetzten sie durch einen Sixties-inspirierten Style, der bis heute überall auf der Welt von Männern jeden Alters imitiert wird. So verhalfen Oasis nicht nur Adidas zu Rekordabsätzen, sondern auch einem Gesundheitslatschenhersteller wie Clarks. Zudem labelten sie unbewusst die Produkte des Tennisbekleiders Fred Perry um, die zuvor vor allem mit Nazis assoziiert wurden. Weil Oasis sie trugen, wurden die Polohemden der Firma nun zum Inbegriff der Hipness ohne politischen Bezug. Natürlich war all dies eine geschickt zusammengeklaute Eulenspiegelei. Aber wer wollte ernsthaft darüber nachdenken, während er mit tausend Anderen „Don’t Look Back In Anger“ grölte? Es ist das Recht einer jeden Generation, sich ihre eigenen Götzen zu schaffen.
Es war schön, es war magisch, doch irgendwann setzte zuverlässig der Kater danach ein: Plötzlich standen Telefonzellen auf der Bühne, verhedderten sich die Gallaghers in den typischen Rockstar-Fallstricken.
Für Bonehead war die Zeit zu gehen 1999 gekommen. „Ich hatte jahrelang mit mir gerungen“, sagt er. Erste Zweifel kamen ihm beim Auftritt im britischen Knebworth: „Mir war immer klar, dass wir viel erreichen konnten, aber ich hätte nie gedacht, das wir so weit kommen würden. Plötzlich stand ich vor einer viertel Million Menschen und alles wurde immer verrückter. Da hätten wir aufhören sollen, die ganze Sache geriet außer Kontrolle, alles wurde zu groß.“ Bonehead, der als Gelegenheits-DJ arbeitet, bis heute in Manchester lebt und in verschiedenen Bands spielt, hat seine Entscheidung angeblich nie bereut.
Auch für Alan McGee war Knebworth der Wendepunkt, wie er bei einem Mittagessen in London erzählt: „Dort standen 7000 Leute auf der Gästeliste, deren Verköstigung mich über 100 000 Pfund gekostet hat. Und als ich darüber mit Noel sprechen wollte, wurde ich nicht mal mehr zur Band vorgelassen. Das muss man sich mal vorstellen.“ Der ehemalige Bahnangestellte McGee gilt in Großbritannien als unantastbare Legende. In den Achtzigern hat der Schotte die legendäre Plattenfirma Creation-Records gegründet, für die er Bands wie The Jesus And Mary Chain und Primal Scream unter Vertrag nahm. Sein größter Coup aber war die Entdeckung von Oasis. Sieben Jahre hat er in England ihre Platten verlegt, für McGee, der sich vor einigen Monaten komplett aus dem Musikgeschäft zurückzog, immer noch die schönste aller Zeiten. Er hat aufgegessen, aber eins ist ihm noch wichtig: „Ohne sie hätte nichts von dem stattgefunden, was in den letzten jahren in England passiert ist. Die Libertines oder jetzt Glasvegas – ohne OasLs undenkbar.“ Vielleicht das Erstaunlichste: Dass sich eine Gruppe glühender Fans – eine Coverband im Prinzip – zu den Eider Statesmen britischer Popmusik entwickeln konnte.
Die Bühne ist sein Arbeitsplatz. Er betritt sie und hängt fein säuberlich seine Jacke hinter einer Gitarrenbox auf. Auf der Box steht the chief, so nennen sie ihn, das ist er. Noel Gallagher wirkt angespannt, wachsam, konzentriert. Das Kölner Konzert im Gloria war binnen 30 Minuten ausverkauft. Die Gelegenheit, Oasis vor nur 500 Leuten zu sehen, wollte sich kaum einer entgehen lassen. „In so einem kleinen Laden haben sie seit zehn Jahren nicht mehr gespielt“, sagt die extra aus London angereiste Marketing-Koordinatorin der bandeigenen Plattenfirma Big Brother.
Mehr noch als in den großen Arenen wird klar: Mit Andy Bell, Gern Archer und dem neuen Schlagzeuger Chris Sharrock haben Oasis inzwischen etwas, das man nie mit ihnen assoziiert hat: Musikalität. Dynamische Unterschiede werden hörbar gemacht, es ist nicht mehr alles nur weißes Rauschen. Erstaunlicherweise schadet es den Songs nicht. Dadurch hat sich das Bandgefüge geringfügig verschoben: „Ich würde nicht direkt von einer Demokratie sprechen, aber Gern und Andy haben auf jeden Fall ein Mitspracherecht“, sagt McKinlay.
Wie immer steht Liam Gallagher jetzt mit der Rassel im Mund am Bühnenrand. Er sieht dabei wahlweise wie ein kompletter Vollidiot aus oder wie ein Messias. Man muss sich da entscheiden, dazwischen gibt es nichts. Als wir vorhin Fotos mit der Band machten, entsprach er eins zu eins seinem öffentlichen Image. Hampelte wie ein Affe vor den anderen herum, baute sich bedrohlich auf. Jedes zweite Wort ein fuck.
Später jedoch lässt er ein hohes Maß an Herzenswärme erkennen. Er freut sich auf Weihnachten mit den Kindern und Mutter Peggy. „Liam ist ein Goldstück“, bestätigt die Dame von der Plattenfirma. Die öffentliche Person und der Privatmann – das seien grundverschiedene Menschen.
Die souveräne Arroganz und natürliche Lässigkeit des Liam Gallagher sind für die Identität dieser Band mindestens so wichtig wie die Songs des genialen Diebes Noel Gallagher. So war es immer: Was dem einen fehlt, hat der andere. Ob das der Grund ist für die andauernden Streitereien? Im Interview vermutet Liam Neid als Ursache für die Sticheleien seines Bruders. Tatsächlich sagte Noel einst dem Journalisten Paolo Hewitt: „Liam wünscht sich, so zu sein wie ich, weil ich Songs schreiben kann, und ich wäre gerne so draufgängerisch und großmäulig wie er, und das bin ich nun mal nicht – da hast du’s.“
Dieser in hunderten Interviews dokumentierten Konkurrenz verdankt die Welt eine der unterhaltsamsten Bands aller Zeiten. Die im Prinzip immer das Gleiche tut, sagt, spielt. Die sich niemals in irgendeiner Weise ändert – und die doch so vielen so viel bedeutet.
Es mag gewagt erscheinen, und sicher ist es nicht gewollt – aber wir müssen wohl von Kunst sprechen.