Warum „Die Verurteilten“ zum beliebtesten Film aller Zeiten wurde
IMDb-User lieben ihn und selbst Nelson Mandela war hin und weg: „Die Verurteilten“ ist ein Klassiker, auf den sich alle einigen können. Wir erklären, warum das so ist.
Die Geschichte der „Verurteilten“ ist inzwischen untrennbar verbunden mit der größten Filmdatenbank im Internet. 1996 führte die Website IMDb.com eine Liste der 250 besten Filme nach den Bewertungen ihrer Nutzer ein. Seit Anfang der 2000er-Jahre ist die Kinoproduktion von Frank Darabont ganz vorne mit dabei – und zwar viele Jahre lang hinter dem Mafia-Klassiker „Der Pate“ von Francis Ford Coppola auf Platz zwei der Liste. Seit 2008 ist „The Shawshank Redemption“, wie der Film im Original heißt, allerdings vom Spitzenplatz nicht mehr zu verdrängen.
Wie konnte ein Film, der zu seinem Start allenfalls einen bescheidenen Erfolg an der Kinokasse verzeichnen konnte und von Kritikern eher vorsichtig gelobt wurde, Filmklassiker wie „Die zwölf Geschworenen“, „2001 – Odyssee im Weltraum“, „Einer flog über das Kuckucksnest“, oder „Pulp Fiction“ hinter sich lassen?
Es gibt wohl kaum einen Menschen auf der Welt, der nach dem überraschenden Ende (nur „Sixth Sense“ konnte in den 1990er-Jahren mit einem ähnlichen clue glänzen) nicht beeindruckt und gerührt war. In ruhigen, beinahe stoischen Bildern erzählt der Film über einen Zeitraum von vielen Jahrzehnten die Geschichte des zu Unrecht inhaftierten Andy Dufresne (Tim Robbins). Nur sein scheinbarer Gleichmut, eine unbestechliche Intelligenz und die Freundschaft zum Gefängnisdealer Red (Morgan Freeman) können ihn davor bewahren, an den kompromisslosen Bedingungen hinter den Gefängnismauern zugrunde zu gehen.
Cineasten vs. Filmfreaks
„Die Verurteilten“ ist einfühlsames Unterhaltungskino mit sichtbarem humanistischem Anspruch. Es ist auch eine der gelungensten Adaptionen einer Stephen-King-Erzählung (in dem Fall der Kurzgeschichte „Rita Hayworth And Shawshank Redemption“ aus dem Novellenband „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“) – aber das erklärt kaum, wie sich der Film im Gedächtnis der Filmbegeisterten an Werken von Kubrick, Coppola, Wilder, Spielberg, Leone oder Bunuel vorbeischleichen konnte.
Schon vor 50 Jahren trieb es Cineasten dazu, Listen ihrer liebsten Werke zu erstellen. Das britische Magazin „Sight And Sound“ gibt zum Beispiel alle zehn Jahre eine renommierte Bestenliste heraus, die von Schauspielern, Filmschaffenden und Kritikern gewählt wird. Fast immer auf dem ersten Platz: „Citizen Kane“, das gefeierte und wegweisende Regie-Debüt von Orson Welles. Zum Abschluss der Nuller-Jahre wählten die weltweit befragten Kritiker allerdings zum ersten Mal „Vertigo“ von Alfred Hitchcock auf die Eins.
Nun bleibt die Frage, wie relevant solche Listen sein können, wenn sie zum Beispiel seit vielen Jahren immer wieder auf Filme verweisen, die ein Großteil der Menschen kaum gesehen haben dürften (unter anderem auch, weil sie zum Teil einfach nicht verfügbar sind) oder bewusst unter den wichtigsten Platzierungen nur Filme zulassen, die meist mehr als 40 Jahre alt sind und die Filmerfahrung der wenigsten Kinobesucher spiegeln. Nun könnte man einwenden, die meisten Kinokritiker sind in Würde gealterte Intellektuelle, die sich eher auf einen Film von Kurosawa oder Bergman einlassen als auf einen Fincher oder Lynch. Aber das alleine ist als Erklärung doch etwas dürftig.
Erfolgsgeschichte IMDb
Im Vergleich zu solchen Kritiker-Panoramen nimmt sich die Top 250 der Internet Movie Database völlig anders aus. Jeder Nutzer kann dort seinen Lieblingsfilm in einem Rahmen von ein bis zehn Sternen bewerten. Das hat natürlich zur Folge, dass es Blockbuster zu ihrem Filmstart relativ leicht haben, gute Bewertungen zu erzielen, weil besonders viele Menschen ihre Freude an dem soeben gesehenen Werk mit exorbitant hohen Bewertungen ausstellen möchten.
Die Filmdatenbank scheint aber trotz allem einen klugen Algorithmus gefunden zu haben, der gerade in der Gewichtung der am besten gewerteten Filme nicht nur das sprunghafte „Like“-Bedürfnis wiederspiegelt, sondern über einen möglichst langen Zeitraum Bewertungszahlen hochrechnet, die dann zu einem vergleichbaren Wert führen. (Schließlich kann ein Film wie „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisenstein ganz sicher nicht mit einem ähnlichen – sprunghaften – Klickinteresse rechnen wie zum Beispiel „The Avengers“ zu seiner Filmpremiere.)
Kampf um die Spitze
Als 2008 „The Dark Knight“ in die Kinos kam, löste der Film einen beispiellosen Höchstbewertungsboom aus, der ihn kurzzeitig bis auf die vordersten Plätze der Top 250 auf IMDb führte, für wenige Tage gar auf Position eins. Dieser Erfolg war verschiedenen Online-Medien gar eine Nachrichtenmeldung wert.
Zeitgleich war in dem Forum der Website (das inzwischen dicht gemacht wurde) eine Diskussions-Schlacht ausgebrochen, wie mit dem Ungleichgewicht zwischen Filmklassikern und Publikumslieblingen umzugehen ist. Oftmals belegten nämlich Fans des Batman-Franchise andere Filme wie den „Paten“ oder „Zwei glorreiche Halunken“ mit niedrigen Wertungen, um den eigenen Liebling in der Liste weiter in die Spitze zu helfen.
Eine ähnliche Reaktion wird sicher auch für den Erfolg der „Verurteilten“ verantwortlich sein. Es bleibt müßig, die konkrete Motivation der IMDb-User nachzuvollziehen, aber interessant ist es doch, warum ausgerechnet dieses old-fashioned prison pic so eindrucksvoll mit dem Rückhalt des Publikums rechnen kann.
Neues Zeitalter der Filmkunst
„The Shawshank Redemption“ steht fast wie ein Paradigma für den Bruch zwischen in die Jahre gekommenen Cineasten, die sich auch nach wie vor für intellektuelle, ästhetisch ausdrucksstarke und zuweilen schwer verständliche Filme begeistern können und jenen jungen Geeks, die mit den Blockbustern Spielbergs, Lucas’ oder Luc Bessons’ und einem generell anspruchsvollen Unterhaltungsfilm groß geworden sind. Für sie ist „Zurück in die Zukunft“ mindestens ebenso wertvoll wie für eine Generation vor ihnen „Bonnie und Clyde“.
„Die Verurteilten“ markiert im Grunde wie kaum ein anderer Film der letzten Jahrzehnte die Schnittmenge zwischen diesen Polen. In der Hauptrolle spielen zwei Charakterdarsteller, die für ihr Schauspiel (und auch ihr Engagement in Hollywood) oft gerühmt wurden – und sowohl in kleineren Verfilmungen als auch in Kassenschlagern zu sehen waren.
Die Darstellung ihrer über die Zeit sich langsam entwickelnden Freundschaft ist gerade durch ihre unprätentiöse Schilderung der auferlegten Schicksalsgemeinschaft berührend. Dass es der Regisseur vermeidet, die konkrete Schuld der Gefängnisinsassen zu thematisieren (sie selbst sprechen schelmisch davon, dass im Grunde alle Gefangenen unschuldig seien) und so auch die moralische Ambivalenz hinter der eigentlichen Handlung ausblendet, wurde ihm bis heute eigentlich von fast allen Zuschauern verziehen.
„Die Verurteilten“ spricht alle Zuschauergruppen an
Zugleich handelt es sich um ein Genre, das in der Filmgeschichte seit Urzeiten bedient wird und einige Klassiker wie „Der Gefangene von Alcatraz“ hervorgebracht hat. Was ist „The Shawshank Redemption“ anderes als eine zeitgemäße Neuerzählung des „Graf von Montechristo“? Da darf eine Anspielung an den Abenteuerroman von Alexandre Dumas auch nicht fehlen.
Sujets, in denen vor allem sanfte und introvertierte Persönlichkeiten gegen widrige Umstände ankämpfen müssen, interessieren beide Geschlechter gleichermaßen. Wer heute nicht gleichsam Mann und Frau ins Boot holt, kann – anders als das vielleicht einmal in den 60er-Jahren war – nicht mehr das große Publikum erreichen. Auch hat sich die Filmkritik in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt; sie ist weiblicher und beschreibender, oft auch emotionalisierender geworden. „Die Verurteilten“ mag unter vielen Aspekten erlesener Edelkitsch sein, doch der wird mit einer spannungsvollen Inszenierung und einem klugen Drehbuch in Schach gehalten. Mehr als 100 Minuten wird darauf hingearbeitet, dass der Zuschauer keine Pointe erwarten sollte. Nur deshalb wirkt sie so nachhaltig.
Wie auch „Club der toten Dichter“ gelingt es diesem durchaus überlangen (142 Minuten) Film, Männer zu Tränen zu rühren. Mit einer nachdenklichen Off-Stimme Morgan Freemans wird die Handlung einfühlsam kommentiert und auch moralisch eingeordnet. Die verhält sich fast schon konträr zu jener in „Sieben“, wo Freemans abschließender Voice-Over-Satz („Ernest Hemingway hat mal geschrieben: ‚Die Welt ist so schön, und wert, dass man um sie kämpft.‘ Dem zweiten Teil stimme ich zu.“) die Ambivalenz des Filmendes auf unvergessliche Art und Weise aufgreift und nur scheinbar ein wenig aufhellt.
Natürlich ist es auch nicht unerheblich, dass es sich bei den „Verurteilten“ um die Verfilmung einer zudem eher weniger bekannten Kurzgeschichte von Stephen King handelt. Bereits „Stand By Me“ ließ erahnen , dass der Großmeister der Horrorliteratur dem Kino auch mit seinen sensitiven Stoffen ohne Horrorelemente Kassenschlager zu schenken in der Lage war. Die unterschwellige Spannung in der Prosa Kings rührte ja stets auch von der komplexen Figurenzeichnung her, die sich in Darabonts Film auf ein kleines Figurenarsenal beschränkt.
Ein Film über den Fluss der Zeit
Dem Regisseur gelingt der seltene Glücksgriff, mit kinematographischen Mitteln den quälenden Lauf der Zeit, in der sich Andy Dusfrene zu Unrecht im Gefängnis befinden muss, auf ergreifende Art und mit den Mitteln des Unterhaltungskinos aufzulösen. So nah an Ozu, Bresson und temps mort traute sich das Hollywood-Kino danach häufig nicht mehr, auch wenn die genannten Referenzen nur in homöopathischen Dosen eingesetzt scheinen.
Diese moralische Fabel, die notwendigerweise auch von der Langeweile erzählt, schafft das Kunststück, keine Minute langweilig zu sein. Das haben ihm Cineasten, Filmfreaks und Videothekengänger (tatsächlich schaffte es „The Shawshank Redemption“ erst durch seine Videoauswertung, die Produktionskosten von 25 Millionen Dollar wieder einzuspielen) mit einer beispiellosen Treue gedankt.
Mit einer der denkwürdigsten Schlusspointen der Filmgeschichte, die hier natürlich nicht verraten wird, konnte „Die Verurteilten“ sein Publikum wohl auch überhaupt nicht verfehlen. Durch jahrelange Mund-zu-Mund-Propaganda schaffte er es zum wohl meistgeliebten, selbst von Nelson Mandela zitierten Dauerbrenner aufzusteigen, der nun – auch als Beispiel dafür, dass längst der Kinozuschauer die Deutungshoheit über die Relevanz des Zelluloidprogramms zurückerobert hat – in keiner Liste der besten Filme aller Zeiten mehr fehlen wird. Und vielleicht auf ewig in der IMDb-Top250 auf Platz eins thront.
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