Noel Gallagher – „Ich hasse Veränderungen“
Rache? Hat er gar nicht nötig. Der Mann, der die schönsten Oasis-Songs schrieb, kehrt mit einem gewaltigen Album zurück. Noel Gallagher über Kamikaze-Strategien und Notfallpläne, Songschreibsucht und seine größte Schwäche.
Noel Gallagher kommt mit einer abgewetzten Lederjacke und alten Jeans zum Interview ins schicke Landmark-Hotel im Londoner Stadtteil Marylebone, das Hemd hat er für die drei Pressetermine, die heute anstehen, nicht extra gebügelt. Vor 15 Jahren kletterten Oasis in Partylaune noch wie betrunkene Äffchen auf die Palmen im Innenhof, heute bestellt sich Noel einen Cappuccino und nimmt in der Bar gesittet auf einem Sessel Platz.
Alles wirkt wie immer: Noel gibt Interviews zu einem neuen Album, wie er das im Drei-Jahres-Rhythmus seit Langem tut. In seinem Büro um die Ecke kleben noch „Big Brother“-Schilder an den Schränken, Oasis-Tourplakate zieren die Wände. Der vergilbte Teppich und Dutzende Ordner erinnern daran, dass hier schon jahrelang Musik vermarktet wird. Doch seit dem 28. August 2009 ist nichts mehr, wie es war. Noels Label heißt jetzt Sour Mash, das Album, das am 14. Oktober erscheint, „Noel Gallagher’s High Flying Birds“. Oasis sind Geschichte. Wie es zum endgültigen Bruch mit Bruder Liam kam, berichtete Noel Gallagher ausführlich bei einer Pressekonferenz im Juli, damit er es danach nicht immer und immer wieder erzählen muss: Erst hatte ihn der Sänger mit einer Pflaume (!) beworfen, dann attackierte er ihn mit der Gitarre. Da platzte dem zuletzt so friedlich gewordenen großen Bruder der Kragen – er ging. Nicht auf Liam los, sondern zum Auto. Saß dort fünf Minuten und erklärte Oasis schließlich für beendet.
Man kann es für eine geschickte Werbestrategie halten, dass Noel sich als den vernünftigen Älteren hinstellt, der die Aggressionen nicht mehr aushielt – wie ein Bernhardiner, der nicht dauernd von einem lästigen Pinscher angesprungen werden möchte. Vielleicht stimmt es auch einfach. Während Liam mit dem Rest von Oasis die Band Beady Eye gründete und schon im Februar „Different Gear, Still Speeding“ veröffentlichte, hielt sich der Aussteiger bedeckt. Er musste sich erst mal neue Musiker suchen, dann nahm er in London und Los Angeles auf. Dass ihn der fehlende Beistand der anderen Oasis-Mitglieder zutiefst getroffen hat, war bei den ersten Interviews nur zwischen den Zeilen herauszuhören. Bassist Andy Bell, erzählte Noel, habe sich darauf konzentriert, seine Schuhe zu zählen, während Liam auf ihn losging. Loyalität hatte er sich wohl anders vorgestellt. Ansonsten verliert er kein böses Wort über Beady Eye. Er kann es sich leisten, nicht kleinlich zu sein.
Die Umgebung kommt einem bekannt vor: dasselbe Büro, dasselbe Hotel, dasselbe Management. Haben Sie nie daran gedacht, nach der Trennung von Oasis alles zu verändern?
Nein! Warum? Ich habe schon genug damit zu tun, dass ich jetzt eine neue Band habe. Ich brauche kein neues Management oder irgendwas. Die sind meine Freunde, mit denen bin ich seit 20 Jahren zusammen. Ich hasse Veränderungen! Ich bin stur, und ich bin altmodisch. Manche Leute mögen Veränderungen, aber ich bin nicht so. Ich trage zehn Jahre lang dieselben Jeans, bis sie auseinanderfallen. Ich habe seit Jahren den gleichen Haarschnitt. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die dauernd ihr Aussehen oder ihr Verhalten oder ihre Weltsicht verändern. Alles wird bequemer, je länger man es hat.
Warum hielten Sie so lange still? Wollten Sie nicht manchmal hinausposaunen, woran sie gerade arbeiten?
Nein. Weil ich nicht unsicher bin. Ich wusste, ich habe etwas in petto. Wir haben dasselbe Management, und die letzten paar Monate war Beady-Eye-Zeit. Die nächsten Monate werden High-Flying-Birds-Zeit. Es wäre Unsinn gewesen, beides gleichzeitig zu machen. Und ich saß nicht herum und dachte: Ich muss der Welt sagen, dass ich brillant bin! Das ist mir scheißegal. Ich habe eine Platte gemacht. Das brauchte keiner zu wissen. Ein bisschen Geheimniskrämerei ist gut.
Bevor Sie ins Studio gingen, verbrachten Sie ein Jahr damit, umzuziehen und sich um Ihr drittes Kind zu kümmern. Aber waren Sie damit wirklich ausgelastet?
Wenn ich zwei Jahre frei habe, packe ich meine Gitarre ja nicht in einen Kasten, verstecke sie unterm Bett und schaue sie nie wieder an. Ich schreibe die ganze Zeit. Und damit meine ich nicht, dass ich jeden Tag einen Song schreibe, aber ich spiele jeden Tag zu Hause Gitarre. Ich schrammle herum, und dann fällt mir etwas ein. Manchmal dauert das eine Woche, manchmal drei Monate oder ein Jahr, aber ich schreibe permanent. Ich habe also, obwohl ich umgezogen bin, geheiratet habe und wieder Vater geworden bin, immer gearbeitet.
Als es darum ging, Musiker auszuwählen, was zählte da mehr: deren Fähigkeiten oder ihre Persönlichkeiten?
(lacht) Also, ich habe gar niemanden gefragt, ob er meiner Band beitreten will. Ich habe darauf gewartet, dass sie mich fragen. Ich hätte natürlich hundert Bands anrufen und ihre Gitarristen klauen können, Bassisten und so weiter. Aber das ist irgendwie nicht cool, oder? Also dachte ich, ich warte einfach ab. Und die, die dann gefragt haben, kenne ich schon sehr lange, zum Teil seit 15 Jahren … Wir sehen auch nicht wie eine Band aus, wir sind halt ein paar Typen. The High Flying Birds, das bin ich, keine Band. Vielleicht gibt es in ein paar Jahren mal ein festes Line-up, und dann sind es nicht mehr Noel Gallagher’s High Flying Birds, sondern nur die High Flying Birds.
Oder nur Noel Gallagher.
Nein. Das wäre ein bisschen langweilig, oder? Ich habe sowieso fast alles auf dem Album gespielt, außer Schlagzeug und Keyboards. Vielleicht wird einmal eine „Band-Band“ daraus, aber wenn nicht – there is always little old me on the guitar. Ich kann auf einem Hocker sitzen, allein vor tausend Leuten, und das ist cool. Oder ich kann in einer Band sein und Gitarre spielen wie bei Oasis, das ist auch cool. Okay, weniger cool ist es, der Frontman einer Band zu sein. Ich weiß noch nicht, ob mir das gefallen wird. Aber ich bin nicht unsicher. Wahrscheinlich wird es gut werden. Die Platte ist auf jeden Fall gut, das ist die Hauptsache.
Wie groß kann oder sollte man als einzelner Musiker klingen?
Wenn ich einen Song schreibe, spiele ich ihn auf meiner Gitarre. Und im Studio versuche ich dann, das Allerbeste daraus zu machen. Ich weiß, dass meine Songs große Refrains haben und ich sie alle auf der Akustikgitarre spielen könnte, ohne dass sie weniger Kraft hätten. Vielleicht würde man dann sogar noch genauer hinhören. Aber ich mag es, wenn etwas groß klingt. Filmisch. Visuell.
Haben Sie deshalb wieder Dave Sardy als Produzenten engagiert?
Wir verstehen uns sehr gut. Er mag, was ich mache. Und ich mag seine Ideen, und er ist lustig, und er lebt in Los Angeles, sodass ich zum Aufnehmen dort hinfahren muss. Das kommt mir gelegen! Das Entscheidende ist aber: Er ist verdammt gut in dem, was er macht. Ich kann mir nicht vorstellen, nicht noch eine weitere Platte mit ihm aufzunehmen. Er schafft es, dass ich mich wohlfühle. Ich habe zwar coproduziert und schon viel in England vorbereitet. Aber man braucht jemanden, der zur Halbzeit reinkommt und sagt, was toll ist und was nicht. Denn um ehrlich zu sein: Wenn ich jetzt hier mit dem Löffel auf den Tisch klopfe und dazu „Everybody’s On The Run“ singe, dann finde ich das sofort großartig. Weil es mein Song ist. Fuck, das ist wunderbar, würde ich denken. Man braucht jemanden, der einen Schritt zurücktritt und sich das Ganze aus der Distanz ansieht.
Sie haben gerade Los Angeles erwähnt …
Ich liebe es! Ich habe es verdammt noch mal gehasst, als wir zum ersten Mal dort waren. Konnte es nicht ertragen. Es war so leise, keiner auf der Straße. Als würde dauernd einer „Pssssssssssst!“ flüstern. Bloß kein Geräusch machen! Ich dachte: Fuck, fuck off! Sobald ich 35 wurde, dann: Ah, ich versteh’s! Ich mag’s jetzt auch gern leise. Ich mag „Pssssssst!“ Und je älter ich werde, desto mehr gefallen mir der Lebensstil und die Sonne und die Palmen, während ich in meinen Zwanzigern immer New York vorgezogen habe. Nun habe ich in diesem Jahr drei Monate in L.A. verbracht, um das Album fertigzustellen, und ich muss sagen: Ich könnte mir gut vorstellen, irgendwann mal dort zu leben.
Gefiel es Ihnen auch, von London und den großen Erwartungen, die dort alle an Sie haben, entfernt zu sein?
Seit es das Internet gibt, ist man ja nie von irgendwas entfernt. Heutzutage kann man immer herausfinden, was zu Hause los ist. Aber ich habe das Dreckswetter nicht vermisst, und wenn ich arbeiten muss, muss ich arbeiten – da bin ich nicht sehr sentimental. Ich habe kein Heimweh. Zwischen Tourneen und Projekten sorge ich dafür, dass ich genug Zeit für mich habe, für Babys, Umzüge, Hochzeiten. Und dann bin ich bereit, wieder loszulegen.
Aber es ist doch sicher einfacher, sich in L.A. frei zu bewegen …
Es ist dort ganz anders. Hier in London komme ich gut herum, aber in L.A. braucht man ein Auto. Und ich kann nicht fahren. Also stehe ich oft an Straßenecken und denke: Fuck, was jetzt?
Ich dachte eher daran, dass Sie in Europa laufend erkannt werden.
Nicht wirklich. Nicht mal in London. Wenn ich nachher dieses Hotel verlasse, gehe ich direkt zum Bahnhof und nehme die U-Bahn. Mit der fahre ich 15 Minuten quer durch London – und nicht ein Mensch wird mich erkennen.
Sie nehmen die U-Bahn?
Ja. Soll ich Ihnen mein Ticket zeigen? (kramt schon in der Tasche) Ich habe eben keinen Führerschein, und die öffentlichen Verkehrsmittel sind hier sehr praktisch. Das Höchste, was passiert, ist, dass einer flüstert: „Hm, das ist doch …? Nein, kann nicht sein …“ Und falls doch jemand kommt und fragt: „Sind Sie Noel Gallagher?“, dann sagt man einfach: „Nein. Nein.“ Und dann schauen sie einen an und denken: „Ist er das?“ Und man sagt mit ernstem Gesicht: „Nein.“ Und dann gehen sie weg.
Ich weiß nicht, ob ich das schaffen würde.
Aber Sie sind ja auch nicht Noel Gallagher!
Er lacht, es klingt wie ein lautes Meckern. Er hat natürlich recht. Es gibt nur einen Noel Gallagher, und sein Mythos eilt ihm immer voraus – jeder hat eine Vorstellung davon, wer dieser Typ ist. Weshalb sein Solodebüt auch kein richtiges Debüt ist, sondern eher die Fortsetzung seiner Fähigkeiten mit anderen Mitteln. Allerdings ist es das erste Album seit Jahren, das nur aus Noel-Gallagher-Stücken besteht. Mag sein, dass sich die restlichen Oasis-Musiker auch deshalb an Liam hielten, weil sie ahnten, dass sie Noel niemals das Wasser reichen könnten. Er würde immer die besseren Lieder parat haben und nur gnädigerweise – oder aus Faulheit – darauf verzichten, sie alle zu verwenden.
Den Vorwurf, er habe zuletzt seine besten Ideen für ein Soloalbum zurückgehalten, weist Noel allerdings energisch von sich. „Ich habe nichts von all dem hier geplant. Ich habe immer versucht, Oasis so gut zu machen, wie es irgendwie ging. Aber bei Oasis gab es noch drei weitere Songschreiber. Hätte man mich wie früher alle Songs auf den Alben schreiben lassen, dann wären einige vielleicht schon auf den letzten beiden Oasis-Platten gelandet.“ Zwei auf jeden Fall: „Stop The Clocks“, dessen Titel schon seit Jahren in Fankreisen kursiert, und „(I Wanna Live In A Dream In My) Record Machine“. Eine Band sei eben immer ein Kompromiss, betont Noel noch einmal, und er sei bereit gewesen, sich darauf einzulassen. Trotzdem hat er für jedes Album angeblich nicht nur fünf, sondern ungefähr 30 Songs geschrieben. „Aber dann gab ich die Songs einem anderen, der sie singen sollte – und es kam darauf an, wozu er fähig war. Und um ehrlich zu sein: Liam hätte, The Death Of You And Me‘ nicht singen können. Oder, If I Had A Gun‘. Oder, What A Life‘. So einfach ist das.“
Noel Gallagher analysiert ungern seine eigene Musik. Er freut sich, dass ihm diesmal so unterschiedliche Stücke gelungen sind – von den New-Orleans-Bläsern auf „Death“ über den Disco-Rock von „What A Life“ bis zum psychedelisch krachenden Ende ist es ein weiter Weg -, aber er hat keine Ahnung, wie es dazu kam. Nichts habe er jemals bewusst so angelegt. Wäre ja auch langweilig. Nur eins war klar: dass die erste Single kein klassischer Ohrwurm sein sollte. Noel hat sich das so ausgemalt: „Jeder kommt immer mit einem Knall zurück, jeder springt einem mit der ersten Single mitten ins Gesicht. Ich dachte mir: Nein, ich komme zurück und mache, Pssssst, hört mal zu!‘ Und wenn, The Death Of You And Me‘ zwischen dem verdammten Foo-Fighters-Rock und dem verdammten Lady-Gaga-Shit im Radio kommt, dann werden die Leute innehalten und zuhören, weil es leise ist und sanft, und sie werden sagen: wow, Trompeten!“ Er lächelt.
In den Anfangstagen von Oasis war er der großspurige Welteroberer, zuletzt der bescheidene Stoiker. Heute scheint eines seiner Lieblingswörter „Pssst!“ zu sein, und er lebt ein beschauliches Vorstadtleben mit Sara MacDonald (bei der Hochzeit am 18. Juni war Liam nicht dabei), den gemeinsamen Kindern Donovan Rory (4) und Sonny Patrick (1) und seiner Tochter Anais (11). Er kommt ohne Band gut zurecht – auch wenn er vielleicht etwas zu oft betont, dass er gar nicht unsicher ist. (Manchmal glaubt man, ein unausgesprochenes „im Gegensatz zu …“ zu hören.) Die neue Rolle als Mittelpunkt mag ihm suspekt sein, bei der Qualität seiner Musik hat er keine Zweifel.
Was inspiriert Sie, wenn Sie Texte schreiben?
Ich muss sagen, dass ich ganz lange – so ziemlich vom Ende von „Morning Glory“ bis zum Anfang von „Don’t Believe The Truth“ – nicht viel hatte, worüber ich schreiben konnte. Auf „Standing On The Shoulder Of Giants“ sind eine paar tolle Texte, weil sie von einem wahrhaftigen Ort stammen, an dem gerade alles um mich herum kollabierte: Creation Records, meine Ehe, die Band, außerdem kam ich von den Drogen runter, blablabla. Das war gut. Die Texte sind gut, einige Melodien nicht so, aber egal. Zu „Don’t Believe The Truth“ habe ich dann meine Frau getroffen und mich verliebt, und ich wusste wieder, wie sich das anfühlt. Also … schreibe ich nicht über sie und mich, aber über die Vorstellung von junger Liebe. So ähnlich wie damals bei „Definitely Maybe“ – es geht um dieses Gefühl: Wir wollen hier nicht sein, wir wollen woanders sein.
Das ist auch das Thema von „High Flying Birds“? Ja, es beginnt mit „Everybody’s On The Run“, bei dem jemand sagt: Lass uns abhauen! Dann folgt die Reise, man kommt zu „(Stranded On) The Wrong Beach“ und stellt fest, dass es dort gar nicht so toll ist, wie man dachte. Und dann merkt man, dass der Ort, an dem man zuerst war, vielleicht doch der richtige war. Darum geht es in „Stop The Clocks“: sein ganzes Leben umzudrehen und zurück an den Ursprung zu gehen. Deshalb dieses durchgedrehte Ende – man kann sich vorstellen, wie alles zurückgespult wird und wieder „Everybody’s On The Run“ anfängt. Es ist also praktisch ein Konzept. Ein bisschen wie „Dark Side Of The Moon“. (lacht).
Es ist das visuellste Album, das ich je gemacht habe. Komisch, vorher hatte ich noch nie so gearbeitet: Als ich ins Studio ging, hatte ich keine Texte! Sie waren alle da drin. (klopft sich an den Kopf) Ich hatte sie geschrieben, aber nicht aufgeschrieben. Ich konnte mich einfach daran erinnern. Ich sah das als Zeichen, dass sie gut sein müssen!
Das Album hat eine Dringlichkeit, die den letzten Oasis-Alben vielleicht gefehlt hat.
Na ja, ich kann jetzt mit den Songs machen, was ich will. Bei Oasis schrieb ich den Song, ich schrieb die Worte, und ich spielte eine Gitarre. Great, fucking loved it, still wished I was in that band. Aber jetzt schreibe ich den Song und die Worte, ich kann sie singen und die Geschichte erzählen und die Gefühle vermitteln, und ich kann Gitarre spielen und die andere Gitarre auch, und ich kann den Bass spielen. Ich kann ein besseres Bild malen. Sind Sie verheiratet? Ja? Also, wenn man verheiratet ist, dann ist das, wie in einer Band zu sein. Wenn man verheiratet ist, wer richtet dann das Haus ein? Die Ehefrau. Aber wenn man Junggeselle ist, dann richtet man es selbst ein – so wie man will. Das Haus, in dem ich lebe, ist verdammt schön, aber ich hätte gern mehr Fernseher. Und Jungs-Kram. Dieses Album ist für mich also wie eine Junggesellenbude: Ich habe dort alles gemacht, was ich schon immer mal machen wollte. Der Bass ist so laut, wie ich das will. Der Gesang so leise. Ich mag keinen lauten Gesang. Und es gibt einen Disco-Track. Und einen Track, der klingt, als wäre er in New Orleans aufgenommen worden, auf demselben Album. Und all das muss ich keinem erklären.
Nebenbei hat Noel Gallagher noch ein zweites Album aufgenommen, mit dem Elektro-Duo Amorphous Androgynous, das 2012 veröffentlicht wird. Den Titel weiß er bereits, will ihn aber noch nicht preisgeben. Die Idee dahinter allerdings schon: Noel hatte 38 Songs in der Tasche, als er mit den Aufnahmen zu seinem Solodebüt begann. Seine Theorie war also: jetzt zwei Alben veröffentlichen, mit vielen Bonus-Tracks und B-Seiten – und dann kann das nächste Album brandneu sein. Dann ist nichts mehr übrig, keine Reste können noch verwertet werden. Inzwischen hat er zwar schon ein halbes Dutzend neuer Songs geschrieben, aber eben keine rumliegen, die schon etliche Jahre alt sind. „Man kann sich nie wirklich weiterentwickeln, wenn man immer in der Vergangenheit rumstochert. Vielleicht ist das eine Kamikaze-Strategie, weil ich vielleicht nie wieder zehn großartige Songs schreibe. Aber ich dachte, fuck it, ich hatte mit Oasis ja schon genug Erfolg. Und wie ich sagte: Ich bin nicht unsicher. Wenn mir nie wieder ein Album einfällt, egal. Aber das glaube ich nicht. Mir fällt vielleicht nie wieder so ein gutes Album sein, das kann schon sein. So gute Alben fliegen mir nicht gerade ständig zu.“
Und wie wird das Amorphous-Album klingen?
Nach Noel Gallagher natürlich, er singt und spielt darauf – und musste sich doch an die ungewohnte Arbeitsweise von Gaz Cobain gewöhnen. Der nahm zum Beispiel Noels Song „Soldier Boys And Jesus Freaks“, pickte nur den Gesang heraus und änderte alles andere, bis das Stück schließlich acht Minuten lang war statt dreieinhalb. Egal, was Noel vorbereitet hatte, er musste immer wieder von vorn anfangen. „It’s not dance music, it’s not electronic. It’s just far out“, beschreibt er das Werk. Und betont gleichzeitig, dass ihm das Wichtigere die „High Flying Birds“ sind. Er hasst den Begriff „Comeback-Album“, aber es fühlt sich doch so an.
Wenn Sie zu Hause Songs schreiben, werden Sie dann nicht dauernd von Ihren Kindern gestört?
Doch, natürlich, die ganze Zeit, ich habe ja gleich drei. Da kann man auch nicht einfach die Tür absperren, sie würden mich trotzdem finden. Früher hatte ich Studios im Haus, aber die empfand ich als kontraproduktiv. Ich habe da oft nur sinnlos rumgeschuftet. Jetzt schnappe ich mir lieber hier und da einen ruhigen Moment, zehn Minuten, um Gitarre zu spielen und zu sehen, ob etwas dabei rauskommt.
Wie blicken Sie heute auf Oasis zurück?
Die Zeit mit Oasis macht mich sehr, sehr stolz. Ich werde nie wieder so was erreichen. Und ich schaue nicht traurig zurück. Ich war in einer der größten Bands aller Zeiten. Einer der besten Bands aller Zeiten. Es war großartig. Ich hatte eine großartige Zeit. Und das war’s, so ist das Leben.
Nichts zu bereuen?
Ich wünschte, wir hätten nach Knebworth ein paar Jahre freigenommen. Das ist alles.
Als wir uns 2008 trafen, dachte ich, Oasis wären über den Punkt hinweg, an dem sie sich trennen könnten.
(lacht und seufzt gleichzeitig) Das dachte ich auch, ehrlich, das dachte ich auch. Ich habe meine Zukunft nirgendwo anders gesehen. Ich hätte keine verdammte Minute lang gedacht, dass ich jetzt hier sitze und über ein Album namens „Noel Gallagher’s High Flying Birds“ rede. Das war nicht mal ein Traum, nicht mal ein Gedanke. But what happened, happened. It was like: Fuck it, I’m leaving, it was just too much aggro for me. And there you go, it’s just one of those things.
Haben Sie in dem Moment, im August 2009, daran gedacht, was Sie als Nächstes machen?
Ich wusste, ich würde in ein Flugzeug steigen und nach Hause fliegen und dann in Urlaub. Ich möchte nicht gespreizt oder sarkastisch klingen, aber ehrlich: Das war’s. Wenn ich heute alles noch mal machen könnte … Na ja, ich saß fünf Minuten im Auto und dachte: Oh, fuck him. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich dort zehn Minuten sitzen, zurückgehen, das Konzert spielen und das nächste auch, und dann nach Hause gehen. In meinem Kopf hätten wir dann alle unser Ding machen können und dann … 2015 ist das 20. Jubiläum von „Morning Glory“. In meinem Kopf sah ich uns dann mit einem neuen Album zurückkommen und das komplette „Morning Glory“-Album in Stadien auf der ganzen verdammten Welt spielen, das wäre das Allergrößte gewesen. (räuspert sich) Das wird jetzt nicht passieren.
Wie wohl fühlen Sie sich heutzutage als Sänger?
Ich sehe mich selbst nicht als großartigen Sänger. Ich bin auch kein großartiger Gitarrist. Ich bin gar nichts Großartiges. Wirklich! Aber ich bin in verschiedenen Bereichen gut. Es gibt ein halbes Dutzend Dinge, die ich gut kann. Wenn man die alle verbindet, kommt etwas richtig Gutes dabei raus. Im Studio denke ich nicht darüber nach, wie ich singe, ich mache es einfach. Ich will mich nicht in eine Liga mit diesen beiden stellen, aber: Sagen wir, dass Bob Dylan ein großartiger Sänger ist? Nein. Sagen wir, dass Neil Young ein großartiger Sänger ist? Manchmal. Na also. Ich bin ein Songwriter, der seine eigenen Songs singt, und das war’s. Ich behalte immer das gesamte Bild im Auge. Ich hocke nie im Studio und denke: Okay, ich muss es den Leuten zeigen. So bin ich nicht, so bin ich als Mensch nicht. Ich bin nicht so unsicher, weil ich nicht finde, dass ich etwas zu beweisen habe.
Also keinerlei Rachegedanken?
Ich verstehe, dass das wie eine tolle Geschichte klingt. In jedem Interview läuft es darauf hinaus: dies versus Beady Eye. Aber die sind eine Rock’n’Roll-Band. Sie haben sich dem Rock’n’Roll verschrieben – falls so etwas existiert. Und ich bin ich. Es gibt keinen Wettbewerb. Meine Songs sind wichtiger als das. Wichtiger als Wettbewerb oder Rache oder Chart-Positionen oder all dieser Scheiß. Ich gebe zu, dass früher Chart-Positionen und all das manchmal wichtiger waren. Darunter hat dann auch das Songschreiben ein bisschen gelitten, weil ich mir ein bisschen zu viele Sorgen gemacht habe. Jetzt mache ich mir keine Sorgen mehr.
Müssen Sie wohl auch nicht. Die ersten Konzerte, die Sie angekündigt haben, waren innerhalb von Minuten ausverkauft.
Ja, aber um ehrlich zu sein: Es sind keine großen Gigs. Ich habe schon größere Partys gegeben! Also wollen wir mal auf dem Boden bleiben. Ich hoffe bloß, die Leute kommen nicht, um eine Show zu sehen. Es gibt nämlich keine Show, nicht wie bei Oasis. Keine blinkenden Lichter oder einen Sänger, der unbeweglich dasteht. Hoffentlich reichen die Songs für einen gelungenen Abend. Und wenn nicht, wird es eben eine sehr kurze Tour.
Aber wahrscheinlich rechnen Sie nicht damit.
Alles, was ich weiß, ist: Ungefähr nach dem zwölften Konzert werde ich nach der Show in meiner Umkleide sitzen, schwitzen und eine Zigarette rauchen, und dann werde ich entweder denken: Ich bin besser als Elvis. Ich glaube, ich bin sogar so gut wie Bob Dylan und Neil Young und Elvis zusammen. Ich bin verdammt brillant. Oder ich werde denken: Das ist alles scheiße, ich hasse es, ich halte es nicht mehr aus, ich fahre heim. Eines von beiden wird passieren.
Mein Problem ist allerdings: Das Einzige, womit ich es vergleichen kann, ist die Band, aus der ich komme. Und das kann ich nicht, denn das war eine einzigartige Stadion-Rock-Band. Der Vorteil, den ich habe, ist: Ich kann „Wonderwall“ und „Don’t Look Back In Anger“ spielen. Das war’s. Wenn an einem Abend alles schiefgeht, kann ich vier Klassiker spielen. Jeder andere Vorteil wird aufgewogen von der Tatsache, dass ich mit ein paar Typen spiele, mit denen ich noch nie gespielt habe.
Haben Sie je daran gedacht, ganz aufzuhören?
Nach jeder Oasis-Tour. Aber dann vergingen sechs oder acht Monate, und ich schrieb etwas oder ging zu einem Konzert und dachte: Ja, verdammt toll, jetzt will ich auch wieder etwas machen. Ich könnte in Rente gehen, aber was dann? Was soll ich dann machen? Songs für Adele oder Robbie Williams schreiben? Ich bin süchtig nach dem Songschreiben. Und wenn ich ein paar Songs geschrieben habe, bin ich gern im Studio. Und wenn ich dort viel Geld ausgegeben habe, möchte ich rausgehen und versuchen, es wieder reinzuholen.
Sie hätten es aber nicht nötig.
Ach, aber das Touren mit Oasis habe ich geliebt. Ich musste ja fast nichts tun. Ich war der Typ auf der einen Bühnenseite, der Backing-Vocals sang, Gitarre spielte und ein paar lustige Kommentare eingestreut hat. Dann ein paar Akustik-Songs, und alle riefen: Aaah. Jetzt ist das anders. Jetzt muss ich eineinhalb Stunden lang in der Bühnenmitte stehen. Was erzähle ich den Leuten? Wenn man erst mal „Hallo, München, wie geht’s?“ gesagt hat, wie geht’s dann weiter? Das muss ich lernen. Aber ich kann es nicht wie eine junge Band im Privaten lernen, sondern muss das vor der Presse und dem Fernsehen und vor Leuten, die wissen, wer ich bin, hinkriegen. Also muss ich schnell lernen. Und das Problem bei mir ist: Ich lerne nicht gern, weil ich faul bin. Absolut stinkfaul.
Vermissen Sie Liam jemals? Wenn nicht als Sänger, dann einfach als Bruder?
(ungewöhnlich lange Pause. Lehnt sich zurück und verschränkt die Arme) Nicht wirklich. Ich bin ein sehr privater Mensch. Lassen wir es dabei bewenden. Ich habe sechs Freunde auf der ganzen Welt, und das reicht mir. Ich überlege sogar, einen davon loszuwerden … Ich denke nicht darüber nach. Ich habe Familie. Ich habe drei Kinder und eine Ehefrau. Das ist genug für mich.
Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?
2016? Wahrscheinlich promote ich dann immer noch das 20. Jubiläum von „Morning Glory“. Nicht mit Oasis, wenn ich das hinzufügen darf. Das ist eine schwierige Frage. Denn wenn mich jemand vor fünf Jahren gefragt hätte, dann hätte ich sicher nicht gesagt: Ich fange mit 44 noch einmal neu an.
Normalerweise fallen Ihnen auch auf schwierige Fragen immer Antworten ein.
Und genau das bringt mich manchmal in die Bredouille! Ich beherrsche einfach diesen Begriff „Kein Kommentar“ nicht. Ich muss immer etwas erwidern. Weiß nicht, warum. Ich habe zu allem sofort eine Meinung, formuliere sie und werde dann von der britischen Presse dafür kritisiert. Aber das ist schon in Ordnung, das stört mich nicht. Als ein Rockstar – oder wie immer man das nennt – ist man verpflichtet, sich zu äußern. Wer das nicht tut, soll sich verpissen, wir brauchen euch nicht. Deshalb lieben wir ja Morrissey oder Paul Weller oder John Lydon: Sie haben etwas zu sagen. Sitzt nicht bloß auf der Couch und seid höflich und langweilig. Be yourself!
Nickt vehement, fragt „Are we done?“ und verschwindet in Sekundenschnelle Richtung U-Bahn. Er hat keine Zeit zu verlieren: Gleich wird für die Tournee geprobt, aber am Abend will er wieder zu Hause bei der Familie sein. Noel Gallagher hat es – umgeben von vielen großen Jungs – tatsächlich geschafft, ein erwachsener Mann zu werden, und er wird sich nicht dafür entschuldigen. In Würde älter werden gelingt schließlich nicht jedem. Er hatte all die Rock’n’Roll-Klischees, jetzt geht es ihm nur noch um die Songs. Die Zukunft kann kommen.
Rolling Stone präsentiert: NOEL GALLAGHER
4.12. Köln, Palladium
Infos: www.realartistgroup.com
10 große Tage
18. August 1991 Noel Gallagher besucht Oasis bei ihrem ersten Konzert im Boardwalk in Manchester. Er tritt der Band bei – unter der Bedingung, dass er der Songschreiber wird und alle die Sache ernst nehmen.
30. August 1994 Das Debüt „Definitely Maybe“ wird veröffentlicht und steigt auf Platz eins der UK-Charts ein.
24. April 1995 „Some Might Say“ wird die erste Nummer-eins-Single der Band, das folgende Album „(What’s The Story) Morning Glory?“ verkauft sich mehr als 20 Millionen mal.
10./11. August 1996 Oasis spielen in Knebworth zwei Shows mit je 150.000 Zuschauern. Mehr als 2,6 Millionen Menschen wollten Tickets – ein Rekord in Großbritannien.
13. Februar 2003 Oasis sind „Artist Of The Year“ bei den NME-Awards. Im Laufe ihrer Karriere gewinnen sie 15 „NME“-Trophäen.
20. Oktober 2006 Noel gewinnt – ein Jahrzehnt nach dem Ivor-Novello- und Mercury-Prize – den Classic-Songwriter-Award von „Q“.
28. August 2009 Noel Gallagher verlässt Oasis.
16. Februar 2010 Liam Gallagher holt bei den BRIT-Awards den Preis für „Morning Glory“ ab: „Bestes Album der vergangenen 30 Jahre“. Noel beginnt am Tag darauf, Songs für sein Soloalbum aufzunehmen.
25./26. März 2010 Noel spielt zwei Solokonzerte in der Royal Albert Hall zugunsten des Teenage Cancer Trust. Begleitet wird er von Ex-Oasis-Gitarrist Gem Archer.
7. Juli 2011 Noel gibt eine Pressekonferenz in London. Er erklärt die Trennung von Oasis aus seiner Sicht und verkündet, dass er zwei Alben rausbringen wird: „Noel Gallagher’s High Flying Birds“ am 14. Oktober, ein Album mit Amorphous Androgynous im Frühjahr 2012.