No sleep till Hertzfeld
Gewinner unseres Schreib-Wettbewerbs "Beruf: Reporter", den wir anlässlich von Cameron Crowes Film "Almost Famous" ausgeschrieben hatten, ist der 28-jährige Marco Chiu. Der Berichterstatter aus Bremen, selbst Sänger in einer Band, begleitete die vierte Rolling Stone-Roadshow bei den Stationen Hamburg und Köln.
Schön kann das Leben sein. Besonders, wenn man auserkoren ist, sich zwei sonnige Maientage lang dem Tross der 4. ROLLING STONE-Roadshow anzuschließen. Mo Solid Gold, The Divine Comedy und N.O.H.A. bilden das etwas überraschende Line-Up. Letztgenannte Band wird der Reporter übrigens im Tourbus begleiten.
Früher Sonntagnachmittag. Am Hamburger Hauptbahnhof erwartet mich bereits Redakteur Arne Willander (Erkennungszeichen: amerikanische Ausgabe des ROLUNG STONE). Gemeinsam geht es mit dem Taxi zum Veranstaltungsgsort Große Freiheit 36. Im Inneren der hanseatischen Qub-Legende (Kaiserkeller gleich drunter!) befinden sich die Vorbereitungen für den Abend im vollen Gange. Alles läuft, wie man es sich vorstellt: Teile der Tour-Belegschaft sitzen relaxt in Ecken, rauchen oder nehmen Erfrischungen zu sich. Equipment wird aufgebaut, getestet und wieder abgebaut. Roadies wuseln durch die Gegend. Die Jüngeren unter ihnen tragen textile Fan-Artikel von Turbonegro und den Ärzten, Veteranen aber Shirts mit Leonard-Cohen- und Uriah Heep-Aufdruck. Gelegentlich tritt jemand auf die Bühne und sagt Sachen wie: „One, two, one, rwo, yeah, yeah“, bis ihm der Soundmixer freundlich, aber bestimmt Einhalt gebietet Kurz: Musik liegt in der Luft.
Nach einiger Zeit des Wartens mache ich die Bekanntschaft von Saxofonist Philip Noha und Sängerin Sam Leigh Brown, derweil der Rest der N.O.H.A.-Gang sich auf dem benachbarten Betonbolzplatz befindet, um Detlef Schrempf beim Basketball nachzueifern. Sam, die aus Manchester stammt, beeindruckt durch beinahe makelloses Deutsch, ebenso charmantes wie natürliches Auftreten und ein T-Shirt, auf dem in großen Lettern das mir unbekannte Wort „Botze“ prangt. Der aus der Ferne etwas introvertiert wirkende Philip entpuppt sich schon bei der Begrüßung als herzlicher Zeitgenosse. Fast bestürzt nimmt er
die Nachricht auf, dass ich bislang noch keine Gelegenheit hatte, mein Gepäck im Band-Bus zu verstauen. Kann man ja nachholen.
Flugs eilen wir zum in der Nähe parkenden Doppeldeckerbus, wo mir auch gleich meine Schlafkabine zugewiesen wird. Fühle mich schon jetzt als echter Band-Intimus. Nur die heikle Frage, ob Philip und Sam sich wirklich kennenlernten, als die Sängerin auf einer Party mit Nahrungsmitteln um sich warf, erscheint mir momentan noch zu privat.
Pünktlich um 19.30 Uhr entern die Briten von Mo Solid Gold die Bühne der sich langsam füllenden Freiheit. Zeit für Rock 8C Roll 8C Soul. In der Heimat setzt man große Stücke auf die Ex-These Animal Men plus neuem Sänger. Dieser hört auf den Namen K und wird von der dortigen Presse bereits in einem Atemzug mit James Brown, Mick Jagger und (schon klar) Elvis genannt. Ein Schelm, wer da an Übertreibung denkt. Doch selbst der Zweifler muss nach dem Genuss der Live-Show von Mo Solid Gold einsehen, dass einige dieser Assoziationen nicht ganz ungerechtfertigt sind. Die Ballade „Miss America In Space“ etwa erinnert gerade bei den Orgelparts stark an „A Whiter Shade Of Pale“ und einige Bühnenposen des Frontmannes sind offensichtlich von der Sexmaschine Brown geprägt. Bei allem Mut zum Zitat schafft die Band es doch, unverwechselbar zu sein. Gern mal härteres Gitarren-, Bass- und Schlagzeugspiel trifft auf Orgelklänge und die kraftvolle Soulstimme des raubtierhaften Sängers. Die Anwesenden wissen die Performance schnell zu schätzen und grooven alsbald zu Schmusern wie „David’s Soul“ oder der treibenden Single „Personal Saviour“. Nach neun Stücken verlässt die Band ein sichtlich beeindrucktes Publikum. Solides Gold, fürwahr.
Die nach einer Umbaupause auftretende The Divine Comedy stammt ebenfalls aus Großbritannien, hat aber ansonsten nur wenig mit Mo Solid Gold gemein. Geverer Pop mit Hang zu teilweise pompöser Instrumentierung ist die Profession von Neil Hannon und Anhang. Equipmenttechnisch packt man live dann auch das große Besteck aus: Eine ganze Batterie von Tasteninstrumenten wird von gleich zwei Keyboardern bearbeitet Neben Schlagzeug, E-Gitarre und Bass gibt es zusätzlich auch eine kleine Percussion-Abteilung. Im Mittelpunkt steht allerdings meist Hannon – Songschreiber, Sänger und zweiter Gitarrist -, der mit seinen langen blonden Haaren ein wenig aussieht wie Evan Dando zu seligen Lemonheads-Zeiten. Angesichts Hannons unbestrittener Position als Chef vons Ganze entbehrt ein bestimmter Druckfehler im Veranstaltungs-Flyer der Freiheit nicht einer gewissen Ironie: „V^e are The Divine Comedy, not the Divine Company?, stellt der Sänger gleich nach den ersten beiden Stücken klar – und wirkt dabei nur bedingt amüsiert.
Da jeder der souverän dargebrachten Songs vom Publikum der jetzt gut gefüllten Freiheit ausführlich beklatscht wird, ist der Mann aber rasch versöhnt. In seine kurzen Ansagen mischen sich immer wieder ein deutsches „Dankeschön!“ und ein leichtes Lächeln. Die Setlist besteht hauptsächlich aus neueren Stücken der aktuellen Platte „Regeneration“. Altere Kleinode wie das rockige „Generation Sex“ bleiben die Ausnahme. Nach einer knappen Stunde Spielzeit räumt die Band zügig die Bühne, während große Teile der Zuschauer sich jetzt eigentlich noch gern an einem Klassiker wie „Becoming More Like Alfie“ wärmen würden. Redakteure versichern mir, dieser Song
dürfe niemals fehlen. Doch die Zeit drängt, schließlich möchten N.OKA. heute Abend ja auch noch zum Zuge kommen.
Das ist nun ganz andere Musik. „Zu fröhlich“, sagt mancher – und geht. Wer bleibt, freut sich. Begonnen wird mit einem ruhigeren Stück, bei dem Noha am Saxofon, der langhaarige Cap am Kontrabass und Schlagzeuger Eric ein wenig ihren Jazz-Wurzeln frönen. Als beim zweiten Stück, „No Slack“, Rapper Chevy und Sängerin Sam die Bühne regelrecht stürmen, gibt es kein Halten mehr. Ergänzt durch die Tourmusiker Dennis (Keyboard), Marcus (Posaune) und Christoph (Trompete), verarbeitet die bunte Bande aus mancher Herren Länder mannigfaltige Dancehall- und Jazz-Elemente zu einem sehr eigenen Sound, der prompt in die Beine geht. Chevy aus New York ist für punktgenaue Raps und spontane Comedy-Einlagen zuständig. Sam legt auf der Bühne alles Görenhafte ab und wird zur glamourösen Chanteuse mit beachtlichem Stimmumfang. Das anfänglich wohlwollende Fußwippen der Zuschauer weicht ausgelassenem Tanz.
Backstage hört der Spaß nicht auf. Wortreich vermählt der von den Anwesenden in den Stand eines Priesters erhobene Chevy seinen Bandkollegen Noah mit einer attraktiven ROLUNG STO-NE-Mitarbeiterin. Alles in allem ist das sehr spontan und sehr ergreifend. Sogar ein Brautstrauß wird geworfen. Doch schon bald verlässt Philip seine Braut Musiker sind eben doch ein loses Volk.
Für Band und Gefolge geht es zur „Live Music Hall“ nach Köln-Hertzfeld. Während der Fahrt kommt in der unteren Etage des Band-Busses Gemütlichkeit auf. Jetzt wäre eigentlich Zeit für knallharte Recherche, doch erst mal gibt es Sandwiches und Bier. Später zerlegen technisch versierte Teile der Band den Bus-Fernseher, während sie erfolglos versuchen, einen Camcorder anzuschließen. Der Rest schwatzt munter und bewirft sich gegenseitig mit jenen Rastazöpfen, von denen Chevy sich kürzlich trennte. Irgendwann traue ich mich, die Frage aller Fragen zu stellen: „Sam, hast du wirklich mit Party-Essen geworfen, als du Philip das erste Mal trafst?“ Durch ein leichtes Stirnrunzeln signalisiert die Sängerin, dass ihr das Gerücht entweder peinlich ist oder dass sie diese Frage schon ein paar hundert Mal zu oft gehört hat. JEs war ’ne blöde Party“, verteidigt Sam sich schließlich. Alle wollten möglichst cool wirken, und in solchen Fällen sei es ihre persönliche Politik, dem eine geballte Ladung Uncoolness entgegenzusetzen. Das ist eine durchaus sympathische Einstellung, finde ich, und frage nun, womit sie damals denn genau warf. „Mozzarella und Käse“, antwortet sie überrascht Ha, diese Frage wurde ihr offenbar noch nie gestellt. Wenn das nicht investigativerJournalismus ist, was dann?
Nach und nach zieht es die anderen nach oben in ihre Schlafkojen. Übrig bleiben Eric, Markus und meine Wenigkeit. „Schreib bloß nicht, dass wir uns auf der Fahrt dauernd über Musik unterhalten, machen wir sonst nämlich nie“, sagt Eric, nachdem er mir gerade erklärte, warum er bei N.O.H.A. selten Two-Strokes spielt und was Two-Strokes überhaupt sind. „Versprochen“, sage ich und kreuze unterm Sitz die Finger. Dann sprechen wir über die Grundsätze des Buddhismus. Gegen fünf Uhr wird es auch für mich Zeit zu ruhen, allerdings liegt bereits jemand in meiner Schlafkabine. Egal. Das ist Rock’n‘ Roll. „No sieep till Hertzfeld“, schießt durch meinen Kopf, als ich es mir auf einer Sitzbank bequem mache und dann doch einnicke.
Montagnachmittag. Die mobilen Einsatztruppen der Medienhauptstadt Köln setzen zum Großangriff auf das Line-up der Roadshow an. Die Bands sitzen auf rustikalen Holzbänken im sonnigen Vorhof der Live Music Hall und geben ein Interview nach dem anderen. „Wir haben alle viel getrunken und Philip hat geheiratet“, zieht Eric ein knappes Resümee des bisherigen Tourverlaufs, als das Einmannteam der „VTVA 2“-Neuigkeiten anrückt. Auf dem Gelände ist überhaupt oft von „VIVA“ die Rede. Spätestens jetzt bekommt man den Eindruck, die europäische Medienszene würde ohne dieses ewige Gerstenkorn im Auge des Viacom-Konzerns dastehen wie Mc Gyver ohne Taschenmesser. „Vielleicht kommt sogar der Herr Gorny, um sich das Konzert anzusehen“, raunt irgendwer andächtig. Das klingt jetzt wie der HERR Gorny, meint aber wahrscheinlich nur den guten alten „VTVA“-Dieter.
Beim abendlichen Auftritt von Mo Solid Gold geraten die zahlreich erschienenen Zuschauer ganz schön in Wallung. Der ekstatisch agierende K aber noch mehr. „Stageblood“, sagt er lächehid nach einem Stück und wischt sich dabei kurz über den kahlgeschorenen Kopf. „Wbw, was für ein cooler Ausdruck für Schweiß“, mag sich maneher Zuschauer denken. Tatsächlich legte K sich während des vorangegangen Songs derart mit dem Bühnenequipment an, dass er sich seine dabei entstandene Kopfwunde nach dem Auftritt eiligst nähen lassen muss.
The Divine Comedy scheinen heute entschlossen zu sein, das lokale Kölsch-Edikt mit dem fast demonstrativen Herzeigen von Becks-Dosen zu brechen. Die Band ist gut drauf. Hannon redet mehr mit dem Publikum als gestern. Bei „Mastermind“ haut Lead-Gitarrist Ivor Talbot mit sichtlicher Freude auf den Seiten seines Hauptinstruments rum. Auch die Anwesenden erfreut das.
Dann legen N.O.H.A. los. Chevy trägt heute einen Schottenrock und zeitweise sogar eine schwarze Perücke mit Tolle und Koteletten. „Am I king?“, fragt der MC die Menge, welche laut und bejahend antwortet und die Band erst nach einer Zugabe gehen lässt.
Während die illustre Belegschaft der Roadshow sich geistig schon darauf einstellt, morgen in Stuttgart für Frohsinn zu sorgen, ist es für den Verfasser dieser Zeilen nun an der Zeit, Abschied zu nehmen. Später, beim finalen Kaltgetränk in der Hotel-Lobby, fragen mich die tourbegleitenden ROLLING STONE-Leute, wie mir all das gefallen hat. Mein seliges Grinsen wird von allen Anwesenden als Antwort akzeptiert.
Jetzt aber schlafen.