Niemand sonst könnte die Lebensgeschichte des Motörhead-Frontmanns besser vertonen
als Deutschlands Vorzeige-Querkopf: Martin Semmelrogge (52) spricht die deutsche Ausgabe der Biografie von Lemmy Kilmister.
Herr Semmelrogge, was hat Sie eigentlich dazu bewogen, Lemmy Kilmisters Lebensgeschichte zu vertonen?
Ganz banal: Ich habe das Angebot bekommen. Ich bin gar nicht der große Motörhead-Fan, obgleich ich die Power in ihrer Musik schon sehr mag. Ich hatte das Buch vorher auch nicht gelesen; dann kam das Angebot, ich hab’s einmal durchgelesen und dann gedacht: Das könnte man machen. Irgendwie passt das. Wie gut das passt, habe ich selbst erst hinterher erfahren, als ich mir das Ergebnis mal ganz entspannt beim Autofahren angehört habe.
Was verbindet Sie und Lemmy?
Wir haben beide etwas vom Teufel. Ich spiele ihn ja immer wieder – erst kürzlich spielte ich wieder den Teufel in Gestalt eines Lagerkommandanten im Zweiten Weltkrieg, jetzt gerade drehe ich einen Film, in dem ich den Satan spiele. Er trägt den Titel „Fahr zur Hölle, Gott!“ Ich bin also gerade recht teuflisch unterwegs, und zwischen diesen beiden Engagements habe ich das Lemmy-Hörbuch gemacht. Das passte einfach hervorragend, denn auch er ist ein kleiner Teufel.
Woran machen Sie bei sich das Teuflische, das Rebellische fest?
Ich bin Schauspieler und rothaarig, das sind schon mal zwei sehr geeignete Aspekte. Zudem bin ich Schütze mit Aszendent Skorpion – eine feurige Mischung. Von klein auf bin ich meinen ganz eigenen Lebensweg gegangen. Ich bin auf dem Land, auf der Schwäbischen Alb, aufgewachsen, und dort habe ich schon mit vier Jahren mein Unwesen auf den benachbarten Bauernhöfen getrieben. Später hatte ich dort meine Jugendbanden. Diese Freiheit auf dem Land, kombiniert mit meiner anthroposophisch angehauchten Mutter und dem Aufwachsen in den wilden Sechzigern, war offenbar ein gutes Konglomerat von Strömungen, um das Rebellische in sich zu entdecken.
Für gewöhnlich geschieht dies bei jungen Menschen über die Musik. Auch bei Ihnen?
Ja. Als ich dort Alexis Korner in einer alten Turnhalle live sah, war für mich klar, wohin mich die Reise führen wird: in die Musik, die Rebellion, den Individualismus. Dann kamen aus der Stadt die ersten Beatles– und Monkees-Platten zu uns – diese ganze Bewegung fand ich toll. So wurde ich ein echter Beatle mit einem feuerroten Pilzkopf. Ich war ein sehr freiheitsliebendes Kind und konnte mich dort auch entsprechend entfalten.
Und das erst recht, weil Sie die Waldorfschule besuchten. Ein guter Nährboden für rebellisches Verhalten?
Sagen wir es so: Die Schule fördert das eigenständige Denken. Andererseits, das muss sie sich schon ans Revers heften, bereitet sie überhaupt nicht auf das wahre Leben vor. Man wird dort einfach nicht lebensfähig. Sie ist toll, wenn man bereits als starke Persönlichkeit dorthin kommt und weiß, wo man hin will. Aber sie ist problematisch für alle, die gute Führung und die richtigen Lebensimpulse brauchen. Diese leitenden Figuren habe ich mir woanders gesucht – von Charles Bukowski über Karl Valentin bis Clint Eastwood. Ein Kind, erst recht ein zur Rebellion neigendes, braucht Grenzen. Die habe ich in der Waldorfschule nicht erfahren.
Wird man also zum Rebell geboren, oder eher durch die Lebensumstände dazu gemacht?
Es gibt ja Leute, die werden zum Alkoholiker oder zum Streber geboren, schon von der genetischen Disposition her. Ich denke mal, dass es sich mit dem Rebell nicht anders verhält. Sicher tragen Umwelt und Umfeld in der Kindheit noch ihr Übriges dazu bei, aber die Veranlagung, die Power dazu muss man schon mitbringen. Rebell zu sein bedeutet doch nichts anderes, als sich als Mensch zu behaupten. Wenn man dann als Kind noch, so wie ich, mit Borroughs, Bukowski, Miller und Faulkner auf der einen Seite und Schriften wie dem „Tibetanischen Totenbuch“ oder Texten des Dalai Lama andererseits in Kontakt kommt, dann ist die Saat ausgelegt. Deshalb finde ich es auch so schade, dass Jugendliche heute ihre Zeit nur noch vor dem Fernseher und vor dem Computer verbringen – es nimmt ihnen die Möglichkeit, das rebellische Potenzial in sich zu erforschen. Und zwar physisch wie psychisch. Die werden alle ruhig geflimmert.
Sie sind dann sehr früh in die Arbeit eingestiegen: Mit zwölf Jahren Radiosprecher für Hörspiele, mit 16 den ersten „Tatort“ gedreht. Hier war nach einer betont freiheitsliebenden Jugend Disziplin und Arbeitsethos vonnöten. Wo nahmen Sie das her?
Mir hat das schlicht alles viel Spaß gemacht. Ich war wie ein junger Hund, ich wurde mit den richtigen Leckerbissen gefüttert. Ich war auch nicht disziplinlos, ich hatte nur eine irrsinnige Kraft, der ich Ausdruck verleihen wollte. Da kam mir die Schauspielerei gerade recht. Ich verstehe Rebellion auch nicht als eine penetrante Unangepasstheit, sondern eher als inneres Grundgefühl: Wenn man unausgelastet oder gelangweilt ist, rebelliert etwas in einem. Die einen neigen dann dazu, den Kopf in den Sand zu stecken, die anderen unternehmen etwas, das sie beschäftigt. So war und bin ich, und so sehe ich auch Lemmy. Ich bin so gesehen auch nicht rebellischer als andere; höchstens meine Phasen desKampfsaufens und Kampfkiffens unterscheiden mich von anderen rebellischen Künstlern. Aber auch hier war ich irgendwann dagegen, weil ich von diesem Wegballern sehr gelangweilt war – und es dann wieder gelassen habe.
Drogen zu nehmen ist ja ein Ausdruck bewusster Zügellosigkeit. Gibt es demnach eine Wechselbeziehung zwischen Zügellosigkeit und einem vorsätzlichen Querdenken?
Na ja, wenn man rebellisch, chaotisch aufwächst, sehnt man sich doch geradezu nach ein wenig innerer Ordnung, nach Struktur. Danach sehne ich mich bis heute. Die habe ich im Schauspiel gefunden – das ganze andere Leben drum herum war häufig geprägt von Chaos, und ein Ausdruck dessen ist dann eben auch die Zügellosigkeit. Ich bin ja weder faul noch disziplinlos, sondern eher etwas halt- und früher auch orientierungslos. Und in diesem Zustand unternimmt man dann eben so manchen Grenzgang. Das kann dann so weit gehen, dass man sich als Mensch verrät, weil man sich komplett verliert.
Wie findet man da die Mitte, das Maß?
Das kann man an ganz normalen Dingen festmachen: Wenn ich zum Beispiel einen Weg gefunden habe, in so einer banalen Tätigkeit wie Aufräumen Freude und Spaß zu finden, dann bin ich bei mir. Oder auf sich acht geben – seit ein paar Jahren gehe ich regelmäßig in den Sportverein, und prompt geht es mir als Mensch viel besser. Auch Lemmy sieht ja immer besser aus, genau wie ich. Es scheint, als hätten wir beide inzwischen das gesunde Mittelmaß gefunden. Irgendwann hat man das geschafft, und dann ist man eben der Rebell, der mit sich selber zufrieden ist. Ein kleiner Vorteil des Älterwerdens.
Gibt es denn Aspekte des modernen Lebens, wo Sie nach wie vor absoluter Querkopf sind?
Ja, bei der Suche und dem Wunsch nach inhaltlicher Substanz. Wir haben immer mehr Information, die auf uns einprasselt, immer mehr verfügbares Wissen – und zugleich sprudelt aus den meisten Mündern nur noch irgendeine Scheiße. Man kann sich mit vielen Menschen ja nicht mal mehr normal unterhalten! Das finde ich bedenklich. Es ist schlimm, dass keiner mehr dem anderen zuhört.
Ein Nebeneffekt Ihrer rebellischen Ader ist ja, dass sowohl Sie als auch Lemmy – obwohl Sie beide wohl keinem klassischen Schönheitsideal entsprechen – als sehr cool und sexy gelten. Warum ist das so?
Hört man ja gern, (lacht) Das Rebellische wirkt immer sexy, wenn der Verursacher nach außen das Gefühl vermitteln kann, mit sich im Reinen zu sein. Ist es nicht so, dann wirkt das eher wie eine aufgesetzte Attitüde. Wenn man aber in sich ruht und einer heißen Frau erst mal cool und etwas reserviert, zugleich aber in sich selber ruhend begegnet, dann macht das sexy, weil es Begehrlichkeiten schafft. Du versuchst, sie über den Kopf zu kriegen, nicht über ihre Muschi. Damit versprichst du ihr Freiheit. Das törnt ungeheuer an, glauben Sie mir.