„Fruit Tree“: Nick Drake und seine drei Folk-Meisterwerke
Der verletzliche Songschreiber Nick Drake hinterließ drei Alben, die zu Lebzeiten kaum einer hören wollte. Heute wäre er 75 Jahre alt geworden.
Es könnte im Jahr 1970 gewesen sein, als die Depression ihren festen Griff um Nick Drake legte. Tief enttäuscht von schlecht besuchten Konzerten und mangelndem Erfolg, zog sich der britische Songwriter, der sich auf der Bühne ohnehin sehr unwohl fühlte, zugleich auch vom Leben zurück. Ein Jahr später bekam er auf Anraten seiner Familie Antidepressiva verschrieben. Mit 26 Jahren starb er an einer Überdosis dieser Medikamente.
Nick Drake hinterließ mit „Five Leaves Left“ (1969), „Bryter Layter“ (1970) und besonders dem kargen „Pink Moon“ (1972) drei magische Meisterstücke des Folk. Spätestens seit dem von „Pink Moon“ untermalten VW-Spot von 1999 wird der Songwriter regelmäßig wiederentdeckt. Doch soviel man auch über sein Leben liest, die musikalischen Verästelungen seiner Familie nachverfolgt, ist es doch immer ein Blick durch ein Milchglas.
Zu Nick Drakes Geburtstag holen wir eine Archiv-Rezension der Fruit-Tree-Kompilation hervor.
Nick Drake – Fruit Tree ***** (2008)
Die drei Alben „“Five Leaves Left“, „“Bryter Layter“ und „“Pink Moon“ sowie ein Dokumentarfilm auf DVD und ein Booklet mit Kommentaren der Drake-Nachlassverwalter Joe Boyd und Robert Kirby und sämtlichen Songtexten.
Man sieht die Felder und die Hügel auf dem britischen Land, die herrschaftlichen Häuser, den Efeu, die Rundfenster, die Gärten und die Kirche. Hier, im bukolischen Idyll, endete 1974 das Leben von Nicholas Drake, dem größten Songschreiber seiner Generation, dem einzigen wahren Poeten in der Gilde der britischen Folk-Musiker, heute Ikone, Schmerzensmann, Solitär. Natürlich verkaufte er zu Lebzeiten nur einige tausend Platten, wurde mit jedem Jahr nach seinem Tod berühmter, seine drei Alben wurden ins Pantheon aufgenommen. 1978 erschien zum ersten Mal die „Fruit Tree“-Box mit der unerreichten Triole von Platten.
Man hört in dem Dokumentarfilm „A Skin Too Few“, unter anderen Stimmen aus dem Off, auch den einen Satz: „Er sagte, er hätte keine Songs mehr.“ 1972 war „Pink Moon“ erschienen, Nick Drake war wieder in sein Elternhaus gezogen, nach ein paar Auftritten betrat er nie wieder eine Bühne: Man hatte im Auditorium getrunken und sich unterhalten, und Drake konnte so nicht spielen. Sogar für das Tuning der Gitarre brauchte er schmerzlich lange.
Der Film, kaum 50 Minuten lang und voll herbstlicher und elegischer Landschaftsbilder, lässt dem Künstler sein Geheimnis, muss es ihm lassen. Schwester Gabrielle äußert sich ausführlich, erinnert sich an die glückliche Kindheit in Burma, die Rückkehr nach England, den pragmatischen Ingenieursvater, die künstlerisch bewegte und labile Mutter, die Gedichte und Lieder schrieb. Aber seltsam: Auch in den Erinnerungen und Analysen der Schwester ist Nick ein blinder Fleck, eine Projektionsfläche, ein Enigma. Niemand war überrascht, als er vom Tod des Schwermütigen hörte, und auch Gabrielle – die in Bristol auf der Bühne stand – sagt zu den Eltern: „I knew.“ Die Eltern Drake leben heute nicht mehr, Gabrielle ist eine etwa 60-jährige Lady, theatralisch wie Geraldine Chaplin. Man sieht die berühmten Fotos von Keith Morris, ein paar Impressionen von London, man hört einen Cambridge-Kommilitonen: „Wir fühlten uns damals überlegen.“ Derselbe Drake war krankhaft schüchtern, wiewohl ein guter Student, unsicher, schlaksig, ein Schatten. In London lebte er eine Weile in der Wohnung der Schwester, dann allein in einer Bude ohne Heizung, ohne Möbel. Schon 1969 war seine erste Platte erscheinen, „Five Leaves Left“, ein Meisterwerk. Er legte das Album aufs Bett seiner Schwester. Depressionen, die nicht näher diagnostiziert wurden, zwangen ihn in sein altes Zimmer. Ein Freund sah Nick einmal durchs Fenster, wie er die Wand anstarrte.
Der Arrangeur Robert Kirby und der Produzent Joe Boyd, denen Drake so viel zu verdanken hatte, erinnern sich an ihren begabtesten Schützling. Kirby erläutert die Streicher bei ihrer schönsten gemeinsamen Arbeit, „Bryter Layter“ (1970), die durch Kirbys Skalen weit über die Folk-Musik hinausweisen. Kirby und Boyd sind neben Gabrielle die treibenden Kräfte der Drake-Nachlassverwaltung, sie haben an zahlreichen Neuauflagen und Archiv-Compilations mitgewirkt und Interviews, Stories und Bücher munitioniert. Aber beiden Männern fällt nicht ein Bild, eine Situation, ein Gedanke ein, der Nick Drake fassen könnte. Aus dem Off schildern die Eltern ruhig die letzte Nacht, aus der Nick — der regelmäßig Sedativa und Antidepressiva nahm – nicht mehr aufwachte.
In den trostlosen Songs von „Pink Moon“ glaubt man die Auswegslosigkeit zu hören. Während bei „Bryter Layter“ noch Richard Thompson, Dave Mattacks und John Cale mitgewirkt hatten, nahm Drake nun allein auf. Die schwebende Melancholie, die wunderbar britische Kammermusik war jetzt English Gothic gewichen: „Falling fast and falling free, this could just be the end.“ Nachher hatten es alle gewusst. Aber was den Film beflügelt und was Drake den Menschen seines Alters schenken wollte, das hört man in der vollendeten Schönheit von „Hazey Jane II“, „At The Chime Of A City Clock“, „Poor Boy“ und „Northern Sky“: der Gesang eines Jungen, der nicht von dieser Welt war, Jazz und Streicher und Orgel ohne Erdenschwere, ohne Prätention, die traurigste und erhebendste Musik.
Die neue „Fruit Tree“-Box enthält die drei Alben als Vinyl-Replicas, dazu die DVD. „Time Of No Reply“, die Raritären-Sammlung,fehlt – das Material ist auf verschiedenen Compilations erschienen. In einem schlichten weißen Buch gibt es aber ein langes Gespräch mit dem Journalisten Robin Frederick, Joe Boyd, Robert Kirby und dem Ton-Ingenieur John Wood, dazu Arthur Lubows Aufsatz aus der ursprünglichen Edition und sämtliche Songtexte.
So wird das Erbe, wird das Rätsel wieder um eine Generation weitergereicht.
Ein Artikel aus dem RS-Archiv