NICK CAVE UND PLÖTZLICH IST ES LIEBE

Der falsche Nick Cave ist gut zu erkennen. sein blick wirkt grimmig. Die Frisur ist unverwechselbar, vorne extrem kurz, hinten ganz schön lang. Er trägt einen Lendenschurz, ansonsten ist er nackt, hält mit der linken Hand eine Fackel fest, ein eindeutig nicht-olympisches Feuer. Und sitzt auf dem Rücken eines sich dramatisch hochbäumenden Araberhengstes, ähnlich wie Napoleon auf dem Gemälde von Jacques-Louis David. Ja, es existiert wirklich, das legendäre, in den vergangenen zehn Jahren immer wieder mal erwähnte Reiterstandbild – zumindest ein 40-Zentimeter-Modell davon, im Atelier des Londoner Bildhauers Corin Johnson, der 2007 den Auftrag bekam und Cave auf dem Pferd porträtierte. Sicher nicht in der Rolle des Feldherrn und Imperators. Eher als berittenen Propheten. Als Mahner, als Rufer in der Wüste, der schon so irrsinnig lange ruft, dass ihm die Stirn davon ganz hoch geworden ist.

Das alles kann ja nur ein Witz sein, aber der Sänger, Musiker, Komponist und Schriftsteller Nick Cave hat verschiedentlich erzählt, er wolle Johnsons Entwurf in einer überdimensionalen Variante gießen lassen. Sie dann von England nach Australien verschiffen, auf einen Pick-up-Truck laden, direkt in seine Geburtsstadt Warracknabeal im Bundesstaat Victoria fahren, gut 300 Kilometer nordwestlich von Melbourne. Und sie dort eigenmächtig auf dem Marktplatz abladen. Als generöse Gabe des größten Sohnes der Stadt, dessen Namen wahrscheinlich die wenigsten der rund 2.700 Einwohner je gehört haben.

Irgendwann merkte er jedoch, dass Warracknabeal gar keinen Marktplatz hat. Nur einen Kreisverkehr.

Nick Cave, ein Dichter, ein Poet Laureate, dem öffentliche Plätze und Podeste sowie das Rednerpult an der Wiener Universität freigehalten werden. Der Postpunk-Beatnik-Kasper, der sich alles erlauben darf. Obwohl der Künstler Nick Cave gerade von diesem Zug seines popschizophrenen Charakters in den vergangenen Jahren immer weiter abgerückt ist – vielleicht muss man sich ihn tatsächlich so vorstellen wie das unvollendete Reiterstandbild. Auch so freiwillig oder unfreiwillig lustig. Eine Figur auf wackligem Grund, die trotzdem perfekt in ihrer Pose ruht. Einer, der mit 56 Jahren natürlich längst völlig andere Ansprüche an das eigene Werk stellt als damals der 27-jährige Kokshöllen-Struwwelpeter, im West-Berlin der 80er-Jahre. Oder, in den Neunzigern, der frisch wiederhergestellte und zivilisierte Mörderballadier am Klavier. Der dann aber doch immer wieder überfallen und eingeholt wird vom alten, süßen Chaos, das wie ein Sandsturm dazwischenfährt.

Derzeit jedenfalls steht Nick Cave, dieser im Prinzip monumentale Charakter, dieser windzerfledderte Rock’n’Roll-Großauteur im Maßanzug, gut da. Richtig gut, so gut wie praktisch nie zuvor in seiner Bühnenlaufbahn. 2013 war sein Jahrhundertjahr. Im Februar veröffentlichte er mit der Stammband The Bad Seeds das Album „Push The Sky Away“, das fünfzehnte seit 1984, das am Ende sein bisher erfolgreichstes werden sollte, in diversen Ländern die jeweils höchsten Chartsplatzierungen seiner Karriere erreichte. Rang 29 in den USA, drei in Großbritannien, zwei in Deutschland, außerdem zum ersten Mal Nummer eins in der Heimat Australien.

„Push The Sky Away“ ist aber auch ein künstlerischer Höhepunkt geworden, einer, wie man ihn bei aller Liebe nicht mehr von ihm erwartet hätte. Eine Platte, die die Zeit anhält. Eine, die einem schlagartig die brennende Cave-Begeisterung zurückgeben konnte, falls man bei den soliden, aber doch gleichförmigen Werken der vergangenen zehn Jahre etwas weggedämmert war. Ein glimmendes, vibrierendes, magnetisches Ding, fast so, als wären er und seine Spießgesellen nach einer jahrelangen Gewaltwanderung plötzlich mitten im Auge des Wirbelsturms gestanden. In dem eine gespenstische, berückende Ruhe herrscht, an dessen Sturmwänden sich gewaltige Bilder aufblenden. Von erhängten Meerjungfrauen, Todeskrallenbäumen, Mädchen am Wasser, einigen der typischen Bad-Seeds-Motive eben. Aber auch, fast wie eine Fortschrift zu Lou Reeds „Walk On The Wild Side“, die herzzerreißende Erzählung von den Nutten auf der Jubilee Street in Brighton, oder Miley Cyrus im Swimmingpool, eine Vision, die der ROLLING STONE einige Monate später tatsächlich druckte, wenn auch nur zufällig. Und der ganz seltene, scheinbar unmittelbare Blick in die Stube des Dichters, im Arbeitszimmerbett mit Nick Cave, wie er in „Finishing Jubilee Street“ aus einem poetologischen Traum erwacht und die Windbraut gerade noch vor Augen hat. Ja, Freunde, so macht Cave die Recherchen für seine Wahnsinnssongs. Im Schlaf. Und was träumt ihr nachts so?

Es war nach der frühen Veröffentlichung der Platte noch so viel übrig vom Jahr, dass 2013 auch als Live-Saison einer der größten Triumphzüge für die Band wurde. Rund 80 Konzerte gaben Nick Cave &The Bad Seeds zwischen Februar und November, erst mit Orchester und Kinderchor in kleinen Theatern in London, Berlin, Paris und Los Angeles, später vor gefräßigen Massen in Glastonbury, beim Coachella, Sziget und Primavera Sound Festival, zwischendurch auch ganz normale Shows in Mexiko, San Diego, Luxemburg.

Dass Künstler über Jahrzehnte kontinuierlich wachsen, so wie Wirtschaftsunternehmen, die immer an die Aktionäre und die Konkurrenz aus den Schwellenländern denken müssen, das ist ja alles andere als selbstverständlich. Aber es lässt sich mit einiger Gewissheit sagen, dass die Musik von Nick Cave -diesem früheren Risikotypen, der seinen größten Hit eigentlich schon 1995 gehabt hatte -nie zuvor von derart vielen Menschen gehört und geliebt wurde wie im Jahr 2013. Und dabei zugleich so große Kunst war.

Das ist überhaupt der Aspekt, der das Quatschprojekt für den nicht vorhandenen Marktplatz von Warracknabeal so absurd macht. In einem Lebensalter, in dem sein Idol Elvis längst tot war und sein anderes Idol David Bowie sich schon bräsig zur Ruhe gesetzt hatte, ist Cave ein ultimativ agiler, beweglicher Charakter. Zurzeit ungeeignet als Standbild.

Und heute ist München dran. Ein kalter Tag, die Musiker sind schon am Vorabend angereist, allerbester Tourluxus für alternde Männer. Und im Überschwang hat Nick Cave etwas getan, was er jetzt, am Morgen vor dem Konzert, als eminenten Fehler ansieht. Fuck, hatte er sich gedacht, wo ich doch schon mal in Bayern bin – dann ging er abendessen, so richtig, im Parkcafé am Botanischen Garten. Schweinshaxe, Knödel, Rotkraut, es war fantastisch, aber ein australischer Spargeltarzan kann danach freilich nicht mehr schlafen. Früher Heroin, jetzt Fettkruste, Cave gähnt jedenfalls fürchterlich, entschuldigt sich mehrfach und doch spürbar widerwillig, als er viel zu spät am Treffpunkt im Hotelfoyer auftaucht.

Die schwarzen Augenbrauen wirken einen Tick buschiger als sonst, über dem grob gestreiften Hemd trägt er einen lila Cardigan, alles gut gebügelt, dicke goldene Uhr, aber weniger förmlich, als man ihn sonst kennt. Cave bestellt Tee, gießt beim Einschenken stoisch die Hälfte auf den Tisch, signalisiert dabei leicht barsch, dass ihm die eigene Ungeschicklichkeit durchaus auffällt. „Ich weiß, ich weiß! Das ist ein Zen-Kännchen, das verträgt keine Hektik!“

Und noch bevor das Gespräch losgehen kann, platzt der zweitwichtigste Mann der Entourage dazwischen. Warren Ellis, der zaubererbärtige Violinist und musikalische Leiter, der knapp zehn Jahre jünger als Cave ist, aber gut zehn Jahre älter aussieht. Aus dem halb offenen Reißverschluss seiner Lederjacke quillt Brusthaar, rätselhafterweise trägt er sein Frühstücksei in der Hand, aber er muss dem Partner oder Boss sofort noch von dem tollen programmierbaren Keyboard erzählen, das er gestern in einem Münchener Laden entdeckt hat, als Cave im Wirtshaus saß. „Komm nachher mal rüber und schau’s dir an“, nuschelt Ellis, „das könnte auch was für dich sein!“ So eine Tour mit den Bad Seeds muss eine kunterbunte Sache sein.

Warren Ellis, der den Hutzelmann mit Wonne spielt, wäre auch gleich die naheliegendste, also langweiligste, vielleicht aber auch schlicht korrekte Antwort auf die Frage, die es zu klären gilt: Woher kommt es denn, dieses späte, unerwartete Hoch der Nick-Cave-Band? Dabei ist Ellis – als Mitgründer der Instrumentalgruppe The Dirty Three zu erster Ehre gekommen, ebenfalls Australier, nur 230 Kilometer entfernt von Caves Heimat Warracknabeal geboren, was für den Kontinent ein Katzensprung ist – ja auch schon seit Mitte der 90er-Jahre lose dabei, spätestens seit „The Boatman’s Call“ von 1997 als festes Bandmitglied, danach immer mehr als Caves Kapellmeister, musikalischer Teamleiter und Kompagnon bei Seitenprojekten wie Grinderman oder verschiedenen Filmsoundtracks. Was schwierig blieb, solange Gitarrist Mick Harvey zum Kreis gehörte. Caves Partner seit den gemeinsamen, blutig-ekstatischen Jahren mit der Schauertruppe The Birthday Party, ein überaus rigider Charakter.

Im Januar 2009 reichte Harvey überraschend seinen Rücktritt ein. Seine Aufgaben im Bandmanagement hätten Überhand genommen, hieß der weniger beleidigte Teil der Begründung. Der beleidigtere: Er habe viele musikalische Entscheidungen nicht mehr mittragen wollen, aber sein Einspruch sei ignoriert worden.

„Die Rhythmusgitarre, die Mick spielte, hatte unsere Musik immer fest ins Korsett des Rock’n’Roll gesperrt“, analysiert Nick Cave, mit der Teetasse im Hotelfoyer. „Jetzt, wo wir diese Beschränkung los sind, fühlt sich das wie ein kreativer Aufbruch an, hin zu etwas Neuem.“ Man wundert sich über die Kaltschnäuzigkeit, darüber, wie wenig Cave zu verbergen versucht, dass ihm der Abgang des lange treuen Freundes und Schreibpartners allerbestens ins Konzept passte. Dabei trifft er die Sache damit natürlich genau. Die Abwesenheit des gewohnten Rockbandrituals, der Raum, den die von Ellis aus wenigen Instrumenten kreierten, still brütenden, linksdrehenden Loops bekamen, das alles hat „Push The Sky Away“ am Ende so besonders gemacht.

Und dass Cave sich den furchtbaren Schnauzbart wieder abrasiert hat.

Auch von Mute Records hatte man sich vorher in einem historischen Schachzug getrennt, von Daniel Millers legendärem Plattenlabel, das vom ersten, 1984 erschienenen Album „From Her To Eternity“ bis zum vorläufig letzten „Dig, Lazarus, Dig!!!“ alle ihre Platten veröffentlicht, ihnen den richtigen Beigeschmack und graphitgrauen Postpunk-Kontext gegeben hatte. Der Bruch mit der Tradition sei erst durch Harveys Abschied möglich geworden, behauptet Cave – jetzt haben sie außerdem einen echten, hauptberuflichen Manager, Brian Message, der auch schon Radiohead durch die schwammige Zeit lotste, in der sie keine Gitarrengruppe mehr sein wollten. Erschienen ist „Push The Sky Away“ dann beim jungen, digitalpraktisch aufgestellten Vertrieb Kobalt Music, der die letzten Alben von Travis und den Pet Shop Boys herausbrachte und offenbar auch bei Cave alles besser gemacht hat. Obwohl das Plattencover sein bisher kontroversestes war, ein Foto des Künstlers im eigenen Schlafzimmer, mit seiner nackten Model-Ehefrau Susie Bick. iTunes verpixelte die Details. Neulich, bei einem Webcast-Interview, musste Cave sich extra so vor das im Hintergrund hängende Cover setzen, dass sein Kopf die Scham der Gattin verdeckte.

Der personelle und organisatorische Kleinkram, der in Rock’n’Roll-Statistiken so oft als Argument für alles herhalten muss, berührt natürlich nicht den Kern der Sache. Im Vorlauf aufs Jahr 2013 ist Nick Cave, etablierte Kraft mit 56 Jahren, zu allererst noch einmal das Risiko eingegangen, sich von der eigenen Intuition ins Unbekannte führen zu lassen. Das Gewinnerteam zu ändern, die Macht eher abzugeben als anzuhäufen. Auf Dinge zu pfeifen, die ihm all die Jahre Glück gebracht hatten. Nicht öde zu werden im Post-Postpunk-Alter. Und es war absolut richtig.

„Wenn wir heute Konzerte spielen, spüre ich den Konflikt zwischen den alten und den neuen Songs“, sagt Cave. „Sie streiten um die Aufmerksamkeit. Es ist wie ein Krieg. Die alten bäumen sich auf, brüllen, fauchen wie Tiere. Wenn die neuen kommen, bleibt alles stehen, beginnt zu fließen, zu verschwimmen.“

Welche Rolle spielt er dabei? Schiedsrichter? Einen, der sich auf die eine oder andere Seite schlagen muss?“Ach“, antwortet Nick Cave und stiert in die Ferne, „mit der Zeit lernt man, sich da weitgehend rauszuhalten.“

Gerade haben die Bad Seeds mal wieder einen Konzertmitschnitt veröffentlicht, den vierten in 20 Jahren. „Live From KCRW“, aufgenommen bei einer Radiosession in Santa Monica vor einem ganz kleinen Zuschauerkreis, und schon nach dem zweiten Song fragt Cave die anwesenden Superfans, was man als Nächstes spielen solle. Nicht dass er vorhätte, wirklich einen Zuschauerwunsch zu erfüllen, aber man hört, wie die tollsten Vorschläge reingerufen werden. „As I Sat Sadly By Her Side“, die Waldeinsamkeits-Ballade von 2001. „John Finn’s Wife“, die Moritat vom Irren und der Dorfschönheit, die Cave 1992 furchterregend auf „Henry’s Dream“ sang. „Up Jumped The Devil“ von 1988, ein taumelnder, knirschender Tango aus der schwersten Heroinzeit, als er die Vogelscheuche Satans war, schwarze Tinte in den Adern hatte.

Und als ob all die Liedwünsche nicht schon tief genug in die Vergangenheit geführt hätten, ruft natürlich noch einer nach „Nick The Stripper“. Dem 1981er-Klassiker seiner ersten Band The Birthday Party, in dessen Video Nick Cave das Wort „Hell“ auf dem dünnen, nackten Oberkörper trägt, dick draufgeschmiert. Nach den Lieblingssongs der Zuhörer fragte damals keiner freundlich, der Krieg tobte zwischen Band und Publikum, und auf Tour hatten sie extra einen ehemaligen US-Marine im Tross, dessen Aufgabe es war, den Leuten die Eisenstangen und mit Murmeln gefüllten Socken aus den Händen zu schnappen. Trotzdem bekam Cave einiges ab, schon damals war er ein Erste-Reihe-Performer. Keiner, der von der Bühne aus in hohem Bogen ins Stadion hineinsingt. Einer, der die Sache eher mit gesenktem Kopf angeht, Einzelne fixiert, die gleich ein bisschen Angst kriegen, ob er vielleicht gleich kommen und sie holen könnte wie ein Dämon.

Natürlich spüre ich heute endlich auch Liebe zwischen den Leuten und mir, eine Liebe, für die wir unsere Musik glücklicherweise nicht zur dummen Platitüde runterdimmen müssen“, sagt Nick Cave, als er das Konzertjahr 2013 vor sich vorbeiziehen lässt. „Aber eines hat sich nicht geändert. Wenn ich da unten in der Menge bin, geht es mir überhaupt nicht darum, eins zu werden mit dem Publikum. Es geht um Dominanz. Um Schrecken, um etwas Monströses. Jeder Popstar, der etwas anderes behauptet, ist ein mieser Lügner.“

So gesehen war Nick Cave nämlich nie ein Punk aus Gesinnung. Als Kind versank er in den Bildern der Plattenhüllen, starrte Bowie auf dem „Aladdin Sane“-Cover so lange an, bis er glaubte, einen Gott vor sich zu haben. Und selbst einer werden wollte. 1977, als plötzlich jeder Blödmann glaubte, ein Künstler zu sein, war Cave alles andere als begeistert. Weil er nicht glaubt, dass das stimmt. Vielleicht steckt in der Idee mit der Reiterstatue, so sehr er sie als Schelmerei verkauft, ja doch die Wahrheit. Vielleicht ist das das Selbstbild, die göttliche Fallhöhe, die einer wie Nick Cave braucht, um sich aufschwingen zu können zu neuer Dichtung, die sich mit den einfachen Dingen befasst. Der Ehrgeiz, der ihn nun endlich wieder ganz eingeholt hat, nachdem er einige Jahre lang knapp an der Selbstparodie vorbeigeschrammt war. Es ist ja nicht leicht, ein Gott zu sein. Aber ein Gott kann Schweinshaxe essen.

„Hurry up with my damn croissants/I am a god!“, hat Kanye West auf seinem Album „Yeezus“ gezetert, es ist Nick Caves Lieblingsplatte von 2013. Seit 20 Jahren, sagt er, habe er nichts gehört, was ihn derart tief getroffen habe. Obwohl er davor angeblich nicht wusste, wer West überhaupt ist.

2014 erledigt Cave dann erst mal Feuilletonarbeit, genau das, wofür ihn die auf dem Berlin-Trip hängen gebliebenen Uraltfans heute hassen. Er wird den Soundtrack für einen französischen Film machen, dessen Namen er nicht verraten darf, und letzte Hand an das Libretto für eine Kriegsrequiem-Oper legen, die der belgische Komponist Nicholas Lens bei ihm in Auftrag gegeben hat – man spürt, dass er sich für die Zusage im Nachhinein verwünscht. Im Sommer gehen die Bad Seeds auf USA-Tour, dann wird auch sein eigener Film fertig werden, „20.000 Days On Earth“. Eine Cave-Dokumentation, die er selbst initiiert hat, und die – das betont er schnell, denn es ist ja schon wieder eine Art Götterdenkmal – mehr über seine Person verschleiern als erklären werde. Im Film sitzt er im Auto, fährt umher, während auf dem Rücksitz Personen aus seinem Leben auftauchen und mit ihm sprechen. Blixa Bargeld und Kylie Minogue zum Beispiel.

Draußen vor der Glastür dunstet der Münchener Spätherbst, drinnen wird Cave nach zwei Kännchen Breakfast Tea immer müder, gefühlsseliger, weniger widerstandsfähig. Ja, mit Kylie, das sei so schön gewesen. Zu zweit im Auto, nachts in Brighton, an den Lichtern des Piers vorbei. Ein improvisierter, melancholischer, wundervoller Dialog … Da wird es schrecklich klar. Nick Cave hat Heimweh. Und mag es nicht zugeben.

„Wir reden auf Tour ja nie über so etwas“, sagt er, jetzt eher leise. „Aber natürlich gibt es im Herzen eines Vaters ständig die Angst, dass man seine Kinder ans Leben verlieren könnte, während man weg ist. Man geht auf Tour, zu Hause schlägt die Pubertät zu. Hinterher erkennt man sich nicht wieder.“ Caves Zwillingsjungs (zwei weitere Söhne hat er aus früheren Partnerschaften) sind 13. Könnten sie der Grund sein, diese großartige, derzeit wieder so unvermutet rasante Popkarriere doch irgendwann zu beenden?

„Vielleicht“, sagt Nick Cave. „Oder sie zumindest runterzufahren. Es ist ja nicht so, dass ich an ein Rad gekettet wäre, das die Felsen hinabrollt.“

Abends dann die Show, das Zenith in München ist hochfeierlich ausverkauft. 6.000 Leute, und wenn man dem Bad-Seeds-Publikum von 2013 mal direkt in die Augen schauen kann, ist man überrascht, was für ein entspannter sozialer und demografischer Querschnitt das ist. Wie wenig dunkle Gestalten einerseits, wie wenig Wim-Wenders-Festspielgäste andererseits sich hier herumdrücken. Manche hier kennen ihn von der „Bravo Hits“-Compilation und von Viva TV, 1995 mit „Where The Wild Roses Grow“ und der Blume, die er der Wasserleiche Kylie Minogue zwischen die Zähne steckte. Aber sie sind dabei geblieben. Nick Cave, das muss man sich noch ein letztes Mal klarmachen, ist in der Gegenwart kein Genremusiker mehr. Wahrscheinlich sehen ihn nur noch die so, die ihn damals in den 80er-Jahren kennengelernt haben, als blassen, schwarzgeränderten Kerl mit niedriger Lebenserwartung, untauglich für die Ewigkeit. Nicht als den Gentleman, der jetzt da vorne im Anzug auf der sternenübersäten Bühne steht, die Arme ausbreitet, den „Higgs Boson Blues“ predigt, „From Her To Eternity“ brüllt, den „Mercy Seat“ neuerdings in der Manier des Mitternachtssägers croont. Die neuen Songs schwirren, die alten fauchen. Ein glorioses Unentschieden.

Bevor er sich ans Piano setzt, legt Nick Cave das Jackett ab. Beginnt eines seiner irgendwie mittelalten Stücke, im weißen Hemd, „God Is In The House“. Ein Lied darüber, wie die Menschen alle Angst, alles Böse wegbefehlen, wenn sie die Gegenwart Gottes vermuten: „And at night we are on our knees/As quiet as a mouse“.

Dieser Gott, das soll nicht er selbst sein. Aber die Halle ist still. Einen Moment lang. Völlig still.

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