Nick Cave live in Berlin: Götterdämmerung mit Gospelchor

Ein Konzert wie eine Messe: Nick Cave und seine Bad Seeds sorgen mehr als zwei Stunden für Erhebung

Immer wieder greift Nick Cave nach den Händen. Der Sänger ist seinem Publikum schon seit Jahren so zugewandt, wie man dies noch vor 20 Jahren nie vermutet hätte. Einmal umarmt er gar einen reichlich jungen Fan, der wohl auf den Schultern seines Vaters oder seiner Mutter die Liebe Caves erbat. Der Hohepriester der melancholischen Rockmusik verkündete es ja schon mit der Veröffentlichung seines neuen Albums: Es gibt auch (nicht ganz leicht zu fassende) Formen der Freude in der Trauer.

Was das bedeutet, musste man an diesem Abend gar nicht verstehen. Spätestens mit dem zweiten Song , dem hingebungsvoll aufgespielten Titellied der neuen Platte, „Wild God“, war das Publikum für diese Vorstellung gewonnen. Was für eine Ekstase, welche Energie!

„Bring your spirit down“ schallt, nein frohlockt, es von der Bühne. Cave hat einen vierköpfigen Gospelchor mitgebracht. Diese Musik will aufrühren, sie kennt keinen Gram mehr – auch wenn der Sänger sich natürlich weiterhin an seine grüblerischen Auskotzstücke erinnert. „Red Right Hand“, „The Mercy Seat“, „Tupelo“ (gewidmet dem verstorbenen Kris Kristofferson) und das reichlich beschwingt dargebotene „Papa Won’t Leave You, Henry“ sind wie kleine Blitze, die für einen Moment die „Long Dark Night“ erhellen und erschaudern lassen. Später gibt es mit „Henry Lee“ in einem Duett mit der Gospel-Sängerin Janet Ramus auch eine der berüchtigten „Murder Ballads“.

Nick Cave und seine „Beautiful People“

Aber es dominiert eben auch der neue Cave, der offenherzige, der seinen Anhängerinnen und Anhängern hinterherruft, „Beautiful People“ zu sein und offenbar mit seinen Fehlern besser umgehen kann als früher. Einmal verpatzt er einen Titel, dann wieder einen Einsatz. Fast wäre Cave sogar über einen Soundverstärker gestolpert. Kleinigkeiten im Vergleich zu jener Erhabenheit, die allein die ersten fünf Songs hervorrufen. „Jubilee Street“ könnte Tote erwecken, „From Her To Eternity“, das im Anschluss folgt wie eine Drohung, bringt sie zurück in die Gräber.

Zweieinhalb Stunden spielt Nick Cave in der schmucklosen Uber Arena, in der sonst Hans Zimmer und K-Pop-Gruppen auftreten. Am zweiten Abend ist es etwas weniger ausverkauft, aber zu keiner Zeit fühlt es sich bei dem energischen Auftreten auf der Bühne, bei all der Konzentration auf die gute Sache mit Liedern wie „Joy“ und „I Need You“, an, als sei man in einer dieser Mehrzweckhallen, in denen selbst die gleißendsten Klänge nur ein Show-Effekt unter vielen sind.

Das liegt auch daran, dass die Bad Seeds in Höchstform sind, und das nach nur wenigen Gigs der neuen Tour. Colin Greeenwood von Radiohead, der Bassist Martyn Casey ersetzt, fügt sich umstandslos ein. Manchmal hakelt es etwas, gerade bei den neuen Songs. Auch Cave verspielt sich mal am Klavier oder vergisst eine Textzeile bei seinen Gängen zum Bühnenrand. Aber Erbauungsstücken wie „Conversion“ hört man schon auf der neuen LP an, dass sie ausgerichtet sind, live inszeniert zu werden. Und Inszenierung heißt hier: Das Lied sorgfältig entfalten, dann das Licht anschalten und mit Inbrunst gemeinsam „Touched by the spirit, touched by the flame“ singen zu lassen. In solchen Momenten ist Nick Cave ein Dirigent des Sentiments, er feiert die natürlich immer auch spirituelle Auferweckung.

Auch Geisterlieder und Schlüpfrigkeiten haben Platz

„Wild God“ schließt den Trauer-Zyklus, der mit „Skeleton Tree“ und vor allem dem Tod seines Sohnes Arthur unfreiwllig begann und mit „Ghosteen“ an einen geheimnisvollen Ort zwischen Diesseits und Jenseits führte, in eine Richtung ab, die sehr viel mit innerer und äußerer Befreiung zu tun hat. Sind das schon wieder Kichenlieder, fragt man sich zuweilen, um dann mit der schlüpfrigen Verbeugung vor Ex-Bad-Seeds-Mitglied Anita Lane („O Wow O Wow“) und der einmal mehr zu Tränen rührenden Liebeserklärung „Into My Arms“ eines besseren belehrt zu werden.

Platz ist auch für zwei Songs von „Carnage“, dem Album, das Nick Cave in der Corona-Zeit mit seinem kongenialen Songwritner-Partner Warren Ellis einspielte. Auch „Bright Horses“ von „Ghosteen“ kommt zum Einsatz. Für einen Moment fragt man sich, wie eine Tour sich angefühlt hätte, bei denen die Geisterlieder dieser Platte, so ganz ohne Bandgebrummel, im Mittelpunkt gestanden hätten. Die Pandemie hat uns dieses Ereignis entzogen.

Längst jedenfalls ist klar, dass es mit Nick Cave keine ruppigen Abende mehr gibt, auch wenn die Andächtigkeit, die längst zum Markenzeichen seiner Spätphase geworden ist, manchmal die Gleitzone zum Kitsch streift und das Kuscheln und das Deklamieren mit seinen Jüngern in der ersten Reihe sich etwas abnutzt über die volle Strecke dieses langen, beglückenden, niemals langweiligen Konzertes.

Dieser Sänger lehrte uns in der Vergangenheit die Bibel, er wurde zum Exegeten einer nie versiedenen Wut, er gab den Berserker und den Insichgekehrten. Nun schenkt er uns eine radikale Frömmigkeit – ein Lob auf die Hoffnung, dass die Traurigkeit eines Tages vorbei sein wird.

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