Nichts zu verlieren
Bei der Fußball-Weltmeisterschaft lag der Triumph in der Niederlage
Fakt ist – mit welchen Worten sollte man sonst einen Text über die FIFA-Fußball-WM (offizielle Sprachregelung) in DI-DA-Deutschland beginnen, von der einem vor allem „taktisch hochklassige“ (also: langweilige) und anschließend in der „Analyse“ mit jeder Menge Sprachmüll und geheimnisvollen Kringeln auf dem Bildschirm verstellte Spiele im Gedächtnis blieben. Also, Fakt ist: Die Gewinner dieser FIFA-Fußball-WM sind die vermeintlichen VI-VA-Verlierer. Denn die Wahrheit ist immer aufm Platz, und der wahrhaftigste Moment dieses Turniers, der einzige, der in die Fußballmythologie eingehen wird, war der Kopfstoß Zinedine Zidanes im Endspiel am 9. Juli in Berlin. Bei der WM 1998 hatte er Brasilien mit zwei Kopfstößen erledigt, dieses Mal erledigte er Marco Matarazziund- wie man dachte, als man die nach 108 zähen Minuten schlafverklebten Augen rieb – auch sich selbst. Falsch gedacht natürlich.
Schon vor der FIFA-Fußball-WM hatte ZISOU-Zidane bekannt gegeben, dass er nach dem Turnier seine Karriere beenden wolle. Und kurz sah es so aus, als könnte das peinliche Unentschieden der Franzosengegen Südkorea sein letztes Match sein. Nach der zweiten gelben Karte war er fürs dritte und entscheidende Gruppenspiel gesperrt und die überalterte „Equipe Tricolore“ musste es ohne ihn in die Zwischenrunde schaffen. Doch wie im Märchen ging alles gut. Im Viertelfinale entzauberte Zidane schließlich den Titelverteidiger Brasilien im Alleingang, gegen Portugal schoss er das Siegtor und Frankreich stand im Finale. Leider war es ein ödes Endspiel gegen Italien. Das merkte auch Zidane und rammte entnervt Marco Matarazzi seinen Kopf in den Bauch. Der italienische Abwehrspieler hatte seine Schwester beleidigt, also war es eine Frage der Ehre, es ihm heimzuzahlen. Mit einer Gettogeste. Da war wieder der jähzornige Berbersohn aus dem Marseiller Problemviertel LaCastellane, der im Fußballinternat aufgrund solcher Ausbrüche nach dem Training oft zur Strafe die Kabinen schrubben musste. Zidane wollte wohl seine Karriere nicht als Fußballadliger beenden wie Kaiser Franz, Sir Bobby Charlton oder der Pausenfüllerprinz Günther Netzer, er wollte als letzter Straßenfußballer in Erinnerung bleiben. Nach dem Spiel interessierte sich niemand für den Weltmeister Italien, alle wollten wissen: Was macht Zizou? In der Kabine soll er gesessen haben wie ein Häufchen Elend. Oliver Kahn hätte vermutlich gesagt, dies sei der emotionalste Moment einer Mega-Karriere gewesen.
Kahn selbst hatte den emotionalsten Moment seiner Karriere ausgerechnet in dem vollkommen bedeutungslosen Spiel um Platz 3. Gegen wen noch mal? Ach ja, Portugal. Das ganze Turnier über hatte er auf der Bank sitzen müssen, während sein größter Konkurrent Jens Lehmann den „spielenden Torhüter“ gab. Und dann, als es um nichts mehr ging, durfte er noch mal ran, und statt „Uh-uh-uh“-Rufen, die sonst jeden seiner Ballkontakte in der Bundesliga begleiteten, wurde der zweite Torwart gefeiert wie kein Zweiter. Man war in Geberlaune in Deutschland, denn alle hatten ’ne Fahne. Und nicht nur am Auto. Aus den Ni-Na-Nazis von einst waren beider FIFA-Fußball-WM herzliche GI-GA-Gastgeber geworden, von einer „nachhaltigen Veränderung“ des Deutschlandbildes im Ausland war die Rede.
Nur ein Verlierer blieb trotz der FIFA-Fußball-WM immer ein Verlierer: I-A-Altbundeskanzler Gerhard Schröder. Stolz hatte er sich während seiner Amtszeit mit der „Weltmeisterschaft im eigenen Land“ gebrüstet, hatte viel Geld locker gemacht für schöne neue Stadien und anfangs wohl gehofft, ein erfolgreiches Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft könne – wie einst die „Jahrhundertflut“ – sein Abschneiden bei der anschließenden Bundestagswahl positiv beeinflussen. Fakt ist, es kam anders. Für Schröder schnappte die Abseitsfalle aufgrund der vorgezogenen Wahl zu früh zu, und Angela Merkel saß auf seinem teuren VIP-Platz. Bei jedem Jubel wirkte sie wie ein aufgeschrecktes Huhn, weil ständig darum bemüht, die Ärmchen zusammen zu halten, um eine zweite Achselschweißaffäre zu vermeiden. Schröder, wie Zidane aus armen Verhältnissen stammend und das auch immer wieder betonend, hätte sich zu ihr durchmogeln und sie mit einem Kopfstoß in den Magen von der Ehrentribüne schubsen sollen. Das hätte das Deutschlandbild im Ausland nachhaltig verändert.