New York City Kings
September 2001 Sie waren jung und kompromisslos, sie hatten Stil und wollten alles: Die New Yorker Band The Strokes spielte auf den Spuren von Television, Ramones und Lou Reed damals den Sound der Stunde – und versetzte den Autor in Entzücken.
Julian Casablancas ist der geborene Rockstar. Sitzt in einem mondänen Hotel-Restaurant in Amsterdam, soll Interviews geben, ist aber schon verdammt betrunken. Statt sein Steak zu essen, bestellt er ein weiteres großes Bier und knallt das Plattenfirmen-Handy, auf dem er ein Telefoninterview mit einem bedauernswerten Kollegen führen soll, immer wieder auf die Tischplatte, weil ständig der Kontakt abreißt. Dann geht es hinaus in die Nacht. Casablancas torkelt und konfisziert zunächst auf unnachahmlich liebenswürdige Art das Aufnahmegerät, bevor man ihn davon überzeugen kann, dass es Leute gibt, die gerne mehr über das New Yorker Quintett erfahren würden. „Fuck, jedes Mal, wenn ich eine Musikzeitschrift lese, stelle ich fest, dass nur Bullshit drinsteht. Die Musikpresse schlägt doch nur Kapital aus den dummen Seiten der menschlichen Natur. Ihr erzählt nicht die Wahrheit, sondern das, womit man am meisten Geld verdienen kann. Das alles ist wie ein Puzzle, ziemlich kompliziert, Mann. Aber ich möchte sowieso kein Interview geben, sondern mich mit dir als Freund unterhalten, der mir in die Augen sieht. Look into my eyes, man. Cheers!“
Es ist Zeit, sich weit aus dem Fenster zu lehnen: The Strokes haben mit „Is This It“ das wichtigste, aufregendste und beste amerikanische Rock-Album seit „Nevermind“ von Nirvana aufgenommen, das exakt vor zehn Jahren in Seattle das Licht der Welt erblickte. Der aufwühlende, fiebrige Rock’n’Roll-Sound der Strokes erinnert an einige der gloriosesten Künstler, die die Historie New York Citys aufbieten kann: The Velvet Underground, Talking Heads, New York Dolls, Sonic Youth, Ramones und Television. Auf deren Kopf Tom Verlaine scheint Casablancas schon des Öfteren angesprochen worden zu sein. „Was? Und so ähnlich aussehen wie die sollen wir auch noch? Und du siehst aus wie mein verfickter Großvater, Mann! Wann immer ich ab jetzt, Television‘ sage, meine ich die Erfindung aus den frühen 30er-Jahren – und nicht die Band, verstanden?“
Was die Band auszeichnet, sind zum einen die schier unglaublichen Melodien jedes einzelnen der von Casablancas verfassten Strokes-Songs. Zum anderen ist es die ungespielte Rohheit und Glaubwürdigkeit der young offenders, die sich bereits im komplett abgefuckten Booklet der Debüt-Platte niederschlägt: Auf den dort abgebildeten Fahndungsfotos versprühen Casablancas (Gesang), Nick Valensi (Gitarre), Albert Hammond Jr. (Gitarre), Nikolai Fraiture (Bass) und Fab Moretti (Schlagzeug) den unbehauenen Charme von Schwerverbrechern, die man nach einer durchzechten Nacht zum Fototermin aufs Revier gezerrt hat. Neben Produzent Gordon Raphael und Manager Ryan „Wiz Kid“ Gentles (beliebtester Satz: „If you need anything, just call me!“) stellt sich sogar der Band-Guru (sic!) per Bild vor: Er heißt JP Bowersock und sieht aus wie ein Zuhälter. Die Stadt New York kann man nicht perfekter verkörpern. Und die Strokes sind New York.
Auch das Frontcover riecht nach großstädtischen Rotlichtschwaden, nach Andy Warhol und Helmut Newton: ein nackter Frauenhintern, auf den sich eine schwarze Lack-Hand stützt. In den USA soll die Platte stattdessen mit einem moralisch zweifelsfreien Kirchenfenster-Motiv erscheinen, in England hat die Supermarkt-Kette Woolworths signalisiert, dass sie ein solches Foto ungern in den familienfreundlichen Regalen sieht. Von Boykott spricht keiner, zu hoch schätzt man die Verkaufskraft der Strokes ein. Für Australien wurde ein Verkaufsverbot verhängt, um nicht die heimischen Marketing-Pläne zu gefährden.
Die ganze Geschichte: Julian, Sohn des Model-Magnaten John Casablancas und dabei das genaue Gegenteil eines Parvenüs, sowie Albert Hammond Jr., Sprössling von Sänger Albert Hammond („It Never Rains In Southern California“), besuchten schon vor vielen Jahren gemeinsam ein Schweizer Internat, und auch die anderen Bandmitglieder kennen sich seit frühester Jugendzeit. Nun, mit Anfang 20 und nach einer exzellenten EP und Single sowie ekstatischen Live-Shows vor allem von der britischen Musikpresse in den Himmel gehoben (nur zum Vergleich: Auch „Marquee Moon“ von Television wurde 1977 in den Staaten kaum wahrgenommen), stehen den Strokes alle Türen offen. Casablancas ficht das nicht an: „Es geht doch nur darum, die verdammte Wahrheit zu sagen. Realisiere die wirklich wichtigen Dinge: Sex, Visionen, all das. Hab verdammt noch mal Spaß, bevor du stirbst. Gut oder schlecht – es ist ganz einfach, sich zu entscheiden. Und was uns angeht: Wir sind nicht gut. Wir müssen besser werden.“
Der mittlerweile stark alkoholisierte, aber bis zuletzt stets freundlich gebliebene Casablancas entschwindet und taucht fortan nicht mehr auf. Der Rest der Band schwadroniert über die verloren gegangene Faszination des CBGBs, in dem „mittlerweile jede drittklassige Band“ auftreten darf, und den immensen Einfluss New Yorks auf Julians Texte und die Musik der Strokes. Drummer Fabrizio bringt die Philosophie der Band auf den Punkt: „Wir sind völlig unpolitisch. Dinge wie Politik oder auch Liebe sollte man nicht mit Musik zusammenbringen. Unsere Nachricht an alle da draußen hat eine ganz eigene, unerklärliche Kraft. Wir wollen Direktheit vermitteln. Wenn du unsere Platte hörst, unsere Energie spürst und es dir, ohne dass du groß darüber nachdenkst, kalt den Rücken herunterläuft, haben wir schon alles erreicht, was wir wollen. Hauptsache, wir lösen irgendwas in dir aus, wühlen dich auf und bringen dich vielleicht sogar dazu, Dinge zu ändern.“
Am nächsten Tag ist auch Julian wieder aufgetaucht. Auf dem Metropolis-Festival in Rotterdam, das unter dem Motto „The Best You’ve Never Heard Of“ stattfindet und eigentlich nicht mehr als eine kostenlose Freiluft-Veranstaltung für gelangweilte Studenten ist, hält er sich während des furiosen Auftritts seiner Band entweder an der Bierflasche oder am Mikroständer fest und singt, als ginge es um sein Leben. Brüchig, verlebt, verloren. Singt wie einer, der schon alles gesehen und alles erlebt hat. Die Setlist ist denkbar einfach gehalten: „Is This It“ wird bis auf einen Titel in chronologischer Reihenfolge und immer etwas schneller als auf Platte gespielt, bevor Casablancas noch während der letzten Takte des rohen Punks von „Take It Or Leave It“ dem Publikum zuprostet und als Erster die Bühne räumt. „New York City Cops“ markierte den Höhepunkt einer atemraubenden Performance – ein Song, bei dem es aber nicht etwa um die New Yorker Ordnungshüter geht, sondern um ein Mädchen, das auf einer Party wie im Wahn plötzlich nicht mehr aufhören kann, die Worte „New York City cops, they ain’t too smart“ zu sagen. Fuckin‘ strange.
Nach diesem Auftritt wehrt der immer noch geistesabwesend wirkende Casablancas, der wie der Rest der Band die coolsten Klamotten weit und breit trägt („Als ich noch nicht in einer Band spielte, hätte ich über die Sachen gelacht, die ich heute trage!“), die Elogen energisch ab: „Not that bad, man. But we have done better.“ Kein nach Komplimenten haschendes Understatement, dafür die unmissverständliche Ansage: Mir ist es scheißegal, für was ihr uns und unsere Musik haltet.
Oder vielleicht doch nicht? Denn umso erstaunlicher ist es, dass er kurz darauf Albert zu sich ruft und ihm mit glasigem Blick sofort Bericht erstattet: „Hast du das mitbekommen, Albert? Die haben das ganze Album gehört und sich unseren Auftritt angesehen – und sie lieben es!“
„People, they don’t understand/ No, girlfriends, they don’t understand/ In spaceships, they won’t understand/ And me, I ain’t ever gonna understand.“ Herrgott, wie könnten wir nicht?