New Noises
Die Qual der Wahl fällt schwer in veröffentlichungsintensiven Zeiten. Jedenfalls konnte für die April-frische „New Noises" aus dem Vollen gegriffen werden: New Yorker Impressionen und eine Mark Lanegan- Themenstrecke treffen auf krudes Geschepper, deutsche Dachkammer- Philosophie auf kalifornische 60's Symphonik. Fehlt nur noch die Sonne.
Dass es in „The Plot“ darum gehen könnte, wie WHITE-RABBITSSanger Greg Roberts sich einst die Finanzierung seines Lebensunterhalts vorstellte, wird bereits an anderer Stelle in diesem Heft (S. 30) erklärt. Ungeachtet dessen ist der Akkordeon-Harmonien gegen einen garagenrockigen Uptempo-Beat setzende Auftakt der April-„New Noises“ ein hervorragender Teaser zum White Rabbit-Debüt „Fort Nightly“.
Unter anderem mit karibischer Rhythmik führt die Band dort den sogenannten Indie-Rock aus der 4/4-Hölle.
Kein Neuling, aber zumindest in Europa bislang unter dem Radar geblieben: Die amerikanische Band MAN MAN. Die meisten Berichte kaprizieren sich entweder auf die Barte der fünf Musiker aus Philadelphia oder den Unterhaltungswert ihrer unter anderem im Vorprogramm von Arcade Fire bestrittenen Konzerte. Oft resümieren derartige Betrachtungen in einer Bewertung Man Mans als krude Spaßkapelle. Dabei sind auch ihre artifizielles Scheppern mit großer Pop-Sensibilität verbindenden Alben eingehende Beschäftigung wert. Die bekannte Nähe zu Tom Waits, mit dem sie neuerdings gar die Plattenfirma teilen, hört man auch dem „New Noises“-Beitrag „Top Drawer“ an. Sein größter Einfluss seien aber die Unwägbarkeiten des Lebens, betont der als Honus Honus auftretende Sänger und Songschreiber Ryan Kattner.
Als Rick Rubin im Mai 2007 unter großem Trara als eine Art Inspirationsguru zu Columbia Records ging, wollte er in ersten Statements das Hauptproblem der Industrie erkannt haben: Es würden schlicht zu wenig gute Alben aufgenommen, weshalb man den Leuten schlecht vorwerfen könne, dass sie kaum noch welche kauften. Um dem zu begegnen nahm Colu mbia nun das New Yorker Duo MGMT unter Vertrag. „Weekend Wars“ aus deren Debüt, „Oracular Specacular“, führt von einem beinahe freak-folkigen Anfang über opulente Psychedeha geradewegs in die Siebziger-Disco — und von dort zu den frühen Bee Gees. Dass MGMT sich trotz derartiger Stil-Intermezzi stets
durch einen Willen zum memo rablen Refrain auszeichnen, macht sie zu einem der interessantesten Acts der neuen Genreoffenheit.
Über STEVE WYNN braucht man nicht mehr viele Worte zu verlieren, und „new“ ist der 48-Jährige schon gar nicht. Aber gut für Überraschungen: Nachdem er zuletzt von Kalifornien nach New York übersiedelte, zoges ihn nun noch weiter gen Osten. Große Teile seines kommenden Solo-Albums, „CrossingDragon Bridge“, sind in Ljubljana entstanden. Dort nahm Wy nn u nter anderem eine zweiteilige slowenische Rhapsodie auf. Später gar noch ein Orchester — in Prag (!). „Love Me Anyway“ kommt mit weniger aus: Flankiert von flirrend staubigen Gitarren wirbt Wynn hier um ganzheitliche Anerkennung: „Understand my sickness, know the things I know/Love me anyway.“ Wenn das so einfach wäre!
Bereits zum zweiten Mal lud die feenhaft volatile ISOBEL CAMPBELL Schmerzensmann MARK LANEGAN nach Schottland- auf dass er sein waidwundes Organ für „Sunday At Demi Dirt“ nach ihren Vorstellungen zum Krächzen und Schnarren bringe. Das hier vorgestellte „Who Built The Road“ -erwartungsgemäß eine weitere Variation des ewig gültigen Beauty-and-the-Beast-Schemas. Eine lupenreine Lee-and-Nancy-Hommage ist der Song außerdem. „Why don’t we learn from our mistakes“, fragt Campbell an einer Stelle. Nun: Wir wissen es nicht. Aber schön ist derart harmoniesattes Schwelgen schon.
Bei Isobel Campbell nur Erfüllungshilfe, sind THE GUTTER TWINS Mark Lanegan ein Herzensanliegen. Das gemeinsame Projekt mit dem Freund GregDulli kennt naturgemäß nur eine Farbe: schwarz. Ebenso wie der pathosgeladene „New Noises“Beitrag, „I Was In Love With You“, kredenzt auch der überwiegend dramatische Rest des Debüts „Saturnalia“ dunkellackierte Blues-Impressionen aus der Rock-Perspektive. Benannt übrigens nach jenen Festtagen im alten Rom, bei denen Herren und Sklaven die Rollen tauschten. Durchaus eine gelungene Analogie auf den späten Triumph der freilich selbst für ihre jahrelange Versklavung toxischen Ursprungs verantwortlichen Alternative-Rock-Überlebenden.
Wer jetzt schreit, der Basslauf sei aber von Lou Reed geklaut und dessen „Walk On The Wild Side“, hat natürlich recht. I m weiteren Verlauf von „Lighter ’n‘ Spoon“ fühlt sich der Mann hinter BABYBIRD, Stephen Jones, freilich weitaus wohler auf der sonnigen Seite des Lebens – in zunächst an Sonny & Cher, später an Sugar Ray erinnernder Weise. Aber er singt ja auch, er fühle sich wie ein Hippie! Dass Jones eine gewisse Vorliebe für Kontraste pflegt, hatten wir bereits im letzten Heft festgestellt. Meist gelingt es auf „Between My Ears There’s Nothing But Music“ jedoch, den überbordenden Stilmix mit lockerleichten Melodien zu bändigen, so auch hier.
Es ist viel passiert, seit der gebürtige Pole Simon Frontzek von Hamburg nach Berlin zog: Dem nächst erscheint sein unter dem Moniker >SIR SIMON BATTLE-/h3 aufgenommenes Debüt, parallel reist er auf der kommenden Tomte-Tour als Keyboarder mit. Der Reihe nach: Ähnlich wie der jüngst zu Ruhm gekommene Konstantin Gropper verkroch sich Frontzek zunächst daheim und tüftelte an Songs. Schließlich überredeten ihn Bekannte, das Zeug nicht der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Er gründete eine Band, ging im Vorprogramm von Tomte auf Tour usf. In jenen dachkammerphilosophischen Stunden davor hat er offenbar gern Wilco gehört, wie das elegische „Credit Cards And Trains“ vermuten lässt.
Für einen ehemaligen Anti-Folker macht TURNER CODY inzwischen ziemlich eindeutig in „Pro-Folk“. Schuld ist natürlich Bob Dylan, auf dessen „Highway 61 Reuisited“ sich Cody auf seinem zweiten Album „First Light“ hörbar beruft. Freilich mit narrativem Geschick und mehr Fortune beim Songwriting als das Gros der Mitbewerber. „Underground“ ist nun eine genretypisch nach Unterwegssein klingende Folkballade über den — vergeblichen! — Wunsch nach einer Rückkehr zur Unschuld. Manchmal wird eben doch nicht alles besser, wenn man die Stadt verlässt.
Eigentlich passten ¡FORWARD RUSSIA! vor zwei Jahren nicht die Bohne in die im Nachgang des Kaiser Chiefs-Erfolges proklamierte „Szene“ ihrer Heimatstadt Leeds. Aber es ließ sich halt so schön eine Bewegung beschreiben. Von der hat zuletzt das unter anderem für die Pigeon Detectives zuständige Label des i Forward Russial-Songschreibers Whiskas mehr profitiert als die Band selbst. Kunststück: Ihr hyperaktiver Avantgarde-Punk entzieht sich den üblichen Neo-Post-Punk-Kategorien. Aktuell haben sie ihren Stroboskop flackernden Wahn halbwegs in geordnete Bahnen gelenkt, was zur Folge hat, dass einen plötzliche Ausbrüche wie das markerschütternde Emo-Geschrei in „We Are Grey Matter“ umso unvorbereiteter treffen.
Athens, Georgiaist ja nicht unbedingt als Brutstätte schwelgerischer Sixties-Psychedelia bekannt, wohl aber als Hort honorabler Songschreiberkunst. Beides verbindet der aus der R.E.M.-Heimat stammende BRENT CASH auf seinem Debüt, „How Will I Know If I’m Awake“ zu einem kalifornisch anmutenden 6os-Referenzwerk, für dessen Zustandekommen neben Brian Wilson (wer sonst?) auch Burt Bacharach und die Beatles Pate standen. Derart beseelt ist der bekennende Revivalist Cash vom goldenen Jahrzehnt der Popmusik, dass er einen Gutteil seiner Zeit auf die originalgetreue Rekonstruktion alter Aufnahmetechniken verwendete. „Everything That’s Grey“ ist nun eine alles versöhnende Ode an die Liebe und somit eigentlich der perfekte Schluss für die April „New Noises“—wären da nicht…
Genau: HORSEPOWER. Die hier natürlich ein bisschen außer Konkurrenz laufen, da bekanntlich längst Geschichte. Aber diese schöne Live-Version des von David Eugene Edwards inbrünstig gesungenen, ach was: geflehten Horsepower-Klassikers „The Partisan“ wollten wir Ihnen nicht vorenthalten. Übrigens: Auf dem demnächst erscheinenden „Live March 2001“ gibt’s weitere Cuts aus jenem Konzert.