Neue Welle auf die Schnelle
Wie aus englischem Punk deutscher Pop wurde: Eine Erschütterung, die in Deutschlands fest gefügter Musikwelt für jede Menge Verwirrung sorgte.
Jeder Deutsche ist wohl schon einmal durch Hannover gereist, „aber nur wenige haben“, wie der Philosoph Theodor Lessing in seinen Lebenserinnerungen feststellte, „zwischen den nüchternen Rübenfeldern ein langes Leben verbracht“. Karl Marx fand die Stadt „zum Bersten langweilig“, der Literaturwissenschaftler Hans Mayer beklagte die geistige Schwerfälligkeit der Hannoveraner, und Harald Schmidt bemerkte treffend: „Hannover liegt zwar nicht am Arsch der Welt, aber man kann ihn von dort aus sehr gut sehen.“
Wer in den siebziger Jahren dort aufwuchs, war jedenfalls fest davon überzeugt, dass in Hannover nicht nur die Schallplatte, sondern auch die tote Hose erfunden worden war. Zugegeben, die Stadt hatte mit Jane, Eloy und den Scorpions einige namhafte Hardrock-Bands hervorgebracht, doch die waren in Japan, England oder den USA beliebter als daheim. Wer Patti Smith oder Bob Marley live erleben wollte, musste nach Hamburg oder Berlin trampen. Und auch sonst war es kein Standortvorteil, an der Leine aufzuwachsen. In Hannover gab es ja noch nicht mal eine Plattenfirma.
Doch dann kam der Punk nach Deutschland, und Hannover wurde neben Düsseldorf, Berlin und Hamburg zum Zentrum der Bewegung, obwohl die knapp hundert Zuschauer, die sich im Februar 1977 zu einem Auftritt der Vibrators in der Airport-Disco des UJZ Glocksee eingefunden hatten, zunächst einmal sichtlich irritiert waren. Wie überall spaltete Punk damals die Szene in Freund und Feind, doch als diese vier spindeldürren „Rotznasen“ – so wurden sie tatsächlich angekündigt – in ihren enganliegenden silbernen Hosen und zerfetzten T-Shirts die Bühne betraten und in einer affenartigen Geschwindigkeit Song auf Song runterhämmerten, um dann ebenso schnell, wie sie die Bühne geentert hatten, den Saal wieder zu verlassen, machte sich auf den Gesichtern der Fans Ratlosigkeit breit. Das also war Punk Rock …
Und dann ging es Schlag auf Schlag. Eine Freundin brachte eine Sex-Pistols-Single aus London mit. Ein Mitbewohner hatte im Urlaub in Italien die Ramones in einem freien Radio gehört und trat kurz darauf mit zwei sinistren Typen, die sich erst Automats und später The 39 Clocks nannten, auf der Documenta in Kassel auf – sehr zum Verdruss von Joseph Beuys, der gerade eine Rede halten wollte, als die drei ihre Gitarren an einen Verstärker anschlössen und losschrammelten. Und als ich eines Nachts vom Taxifahren nach Hause kam, wurden mir vom Gitarristen der ersten hannoverschen Punk-Band, Rotzkotz, die Haare geschnitten – mit einer Tapeziererschere.
Bei einem Patti-Smith-Konzert in der Berliner Neuen Welt traf ich wenig später eine Bekannte wieder, die ich ein paar Jahre aus den Augen verloren hatte, weil sie sich in der Londoner Punkszene rumgetrieben hatte – Annette Benjamin. Nachdem sie mit einer Gruppe namens Schleim auf einem von mir organisierten Festival aufgetreten war, wurde sie sogleich von einer anderen Band, Hans-A-Plast, abgeworben und erregte bundesweit Aufsehen. Und im März 1980 gründete ich zusammen mit Musikern von Hans-A-Plast ein Label, das wir nach einem Song von Iggy Pop nannten: No Fun Records.
Dem SOUNDS-Redakteur Diedrich Diederichsen kamen wir schon bald „mindestens so exotisch“ vor „wie sowjetische Algenfischer im Eismeer“, und man kann nicht gerade sagen, dass No Fun die Musikgeschichte nachhaltig bereichert hat (ehrlich gesagt, wäre die eine oder andere Platte rückblickend besser unveröffentlicht geblieben). Manche unserer Platten verkauften sich aber wie geschnitten Brot, und die Frauen von Hans-A-Plast, unserem Zugpferd, zierten sogar mal das Titelbild der SOUNDS. Die Gruppe Mythen in Tüten bahnte dem Neuen Deutschen Schlager mit Liebeserklärungen an Lady Di oder das Radio den Weg. Bärchen und die Milchbubis machten „Pogo mit menschlichem Antlitz“ und posierten in Tiger-Badehosen sogar für die Bravo. Für uns, die wir aus der Sponti- und Anti-AKW-Bewegung stammten, war Punk die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln. Bei No Fun flössen all die organisatorischen Erfahrungen zusammen, die wir in linken Projekten und in den Kreisen der Alternativpresse gemacht hatten. Nirgendwo sonst war die Verbindung zum Dadaismus der zwanziger Jahre so augenfällig wie in der Heimatstadt von Kurt Schwitters, und wenn jemand anderer Meinung war, zitierten wir einfach Arno Schmidt: „Was soll ich in New York? Ich war schon zweimal in Hannover.“ An Selbstbewusstsein mangelte es uns jedenfalls nicht. Wir sagten der Musikindustrie den Kampf an, und der englische Kult-Discjockey John Peel stellte unsere Platten seinen Hörern ebenso vor wie ein gewisser Dr. Krautrock in Australien. Zum ersten Mal waren wir stolz auf unsere Stadt, und das „Paradies der Mittelstädte, des Mittelstandes, der Bemittelten und jeder Mittelmäßigkeit“ (Lessing) kam uns plötzlich vor wie der Nabel der Welt.
Damals war es in Deutschland noch immer Usus, englisch zu singen. Udo Lindenberg und Ton Steine Scherben hatten zwar zu Beginn des Jahrzehnts gezeigt, dass deutsche Texte und Rock’n’Roll-Rhythmen sehr wohl zusammenpassen, dennoch war die Überzeugung, die deutsche Sprache sei international nicht verkäuflich und zu sperrig, zu hart und zu spröde für Popmusik, immer noch weit verbreitet. Wenn Klaus Meine von den Scorpions oder Frank Bornemann von Eloy mit breitem deutschen Akzent englisch sangen, klang das zwar ulkig, aber wen interessierten schon deren Texte?
Punk beendete die Dominanz des Englischen und sorgte dafür, dass es heute normal und nicht mehr die Ausnahme ist, in seiner Muttersprache zu singen. Und dass den Texten eine größere Bedeutung beigemessen wird als zur Zeit der Lords oder von Tangerine Dream.
Ähnlich wie in England, wo die Sex Pistols oder The Clash demonstrativ nicht mehr mit amerikanischem Akzent sangen und sich so von früheren Generationen abgrenzten, war es nur logisch, das neue Lebensgefühl auch hierzulande in der Sprache auszudrücken, die man am besten beherrschte – und die auch von den meisten Fans am besten verstanden wurde. Denn anders als die Heavy-Metal-Typen oder die Jazz-Rock-Freaks hatte man etwas zu sagen, und das sollte das Publikum auch verstehen.
Ausgerechnet der in Deutschland aufgewachsene Spanier Gabi Delgado verkündete 1979, natürlich in SOUNDS, dass DAF „eine deutsche Band“ sei: „Wir stellen uns bewusst gegen die vom englischen Pop-Imperialismus aufgestellten Regeln, dass Pop-Gruppen englisch reden, englisch singen, sich nur darauf beschränken dürfen, englische Bands zu imitieren.“ Und für den Extrabreit-Sänger Kai Havaii war es ein „Befreiungsschlag“, deutsch zu singen.
Man wollte nicht mehr „Anhängsel der angloamerikanischen Rock/Punk-Tradition“ (Alfred Hilsberg) sein, sondern „die herrschende Innerlichkeit der sozialdemokratisch verdorbenen Siebziger in die Flucht“ schlagen, wie es Thomas Meinecke von der Freiwilligen Selbstkontrolle mal formuliert hat. Am 23. Juni 1982 war genau dies Thema eines Artikels in der Schweizer Weltwoche: „Ob sie rotzfrech alte deutsche Schlagerseligkeit verulken, bundesdeutsche Realität besingen oder sich fröhlich über die Beziehungspopeleien der Innerlichkeits-Muffel lustig machen, die neuen deutschen Rock-Gruppen formulieren es in jedem Fall in deutscher Sprache.“ Und ob sie nun gegen „die Helotensprache der Herrschenden“ angingen oder lustvoll gegen „die triste verbale Einheitsdüsternis, die das Land wie Mehltau überzieht“, stets sei „das Ja zur modernen Welt“ zuvorderst ein Postulat gegen die moderne Welt.
Den Kapitalismus so mit Spott zu überziehen wie im Lied „Industriemädchen“ von Syph, und nicht mit einer öden „Bierernsthaftigkeit“ zu kritisieren, sei mit das Spannendste in dieser Zeit gewesen, findet Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen. Die Neue Deutsche Welle habe ein paar gute, unmittelbare Bilder geschaffen, später seien die Texte leider nur noch, wie bei Spliff, „handwerklich“ gewesen.
Mit ihrer Muttersprache gingen die meisten völlig unbefangen um. Die neuen Bands schöpften, wie die FAZ feststellte, „aus dem Sprachmüll der Werbung“ ebenso wie „aus verdrängter Phantasie“ und kombinierten „Versatzstücke täglicher Reizüberflutung in ironischen Reimen und antinomischen Metaphern“. Amtsdeutsch, so der konservative Medienkritiker Reginald Rudorf, wurde ebenso verwurstet wie „Deutsch-Blödeleien“ in Dada-Aphorismen oder Remakes von „herrlich-dämlichen Schlagern“ mündeten. Mit „aggressiver Lust“, resümierte Michael Kück in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, wurden Regeln verletzt und Reizwort an Reizwort gereiht, und an den „ungeschriebenen Tabuthemen“ rieb sich die „angriffslustige Spätpubertät“ besonders hartnäckig.
Die angesichts des Baus von Atomkraftwerken und der Stationierung von Pershing-Raketen nachvollziehbare Endzeitstimmung, die damals herrschte, sorgte dafür, dass der Alltag, wie es in der FAZ hieß, nur noch „als wechselvolles Kaleidoskop von Klischees, Bruchstücken, Frustrationen und Gefühlssignalen“ erlebt wurde. Die Lieder erzählten keine Geschichten mehr, „weil das Leben keine mehr schrieb“. Das eigene Gefühlsleben wurde nur noch Schlaglicht- und schlagwortartig beleuchtet und in einer schnörkellosen Gebrauchslyrik wurden das Leben „im Computerstaat“ (Abwärts) und der „Tanz auf dem Vulkan“ (Hans-A-Plast) thematisiert.
Für den Fehlfarben-Gitarristen Thomas Schwebel stellte die Neue Deutsche Welle „das einzig nennenswerte Pop-Ereignis in Deutschlands populärer Musik“ seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dar. Für Schorsch Kamerun, den Sänger der Goldenen Zitronen, war die NDW ein „zentraler Moment“, an dem die Plattenfirmen verstanden haben, dass der Underground sehr wohl relevant tür den Mainstream sein kann. Und für den Musikverleger und Filmproduzenten Klaus Maeck markierte die aus der Punk-Bewegung hervorgegangene Musikrichtung den Anfang einer Independent-Szene, die heute einen Marktanteil von etwa 20 Prozent hat; erst seitdem gibt es in Deutschland eine Infrastruktur und einen eigenen Markt, der sich nun schon seit 30 Jahren gegen die Major-Labels behauptet, die die neue Welle anfangs verschlafen, dann bekämpft und schließlich mit all ihrer Marketing-Power in den Ruin oder zumindest an den Rand des finanziellen Abgrunds getrieben hatten.
Glaubt man hingegen den Oliver Geissens und Hugo Egon Balders dieser Welt, ihren ultimativen Chart-Shows und Präsentationen von Hit-Giganten auf RTL und Sat1, dann war die NDW lediglich eine Ansammlung lustiger Schmalspurmusiker und debiler Kasperköpfe, die nur eins im Sinn hatten: Erfolg, und die sich für nichts zu schade waren, um ihn zu erringen. Und schlägt man im NDW-Lexikon des Berliner Radiomoderators Christian Graf nach, findet man dort neben Udo Lindenberg und Rio Reiser auch Einträge über Gruppen wie Dr. Koch Ventilator, die Crackers oder die Ace Cats, die mit der NDW so viel zu tun hatten wie Helmut Kohl mit Aerobic.
Viele Gruppen, die damals wie heute der NDW zugeschlagen wurden und werden, hatten nichts mit dieser Szene zu tun, die sich aus dem Punk heraus entwickelte und wohl als Post-Punk in die Geschichte eingegangen wäre – wenn der Begriff der Neuen Deutschen Welle nicht dem Journalisten Alfred Hilsberg im Oktober 1979 von der SOUNDS-Redaktion gegen seinen Willen zugeordnet worden wäre, um einem Artikel über die Krautpunk-Szene eine knallige Überschrift zu verpassen. Für Hilsberg war die Welle ein Versuch, „dem Alltag ein Stück Pop abzuringen“, und wie kein anderer vernahm er die ersten „Kratz- und Klopfzeichen“, mit denen sich in Düsseldorf und Berlin, Hamburg und Hannover Bands auf die Suche nach einer eigenen Sprache begaben. Die Linken taten sich schwer mit der neuen Musik – „wie mit jeder Bewegung“, so Hilsberg, „die mehr mit Phantasie als mit Lehrbüchern zu tun hat“. Die Rechten fühlten sich brüskiert, als sich Jugendliche ihrer Zeichen bedienten, um den Bürger zu provozieren. Und die Medien lehnten diese „Kultur aus den Slums“, wie Der Spiegel Punk in einer Titelgeschichte nannte, anfangs mit viel Schaum vorm Mund ab, um die vermeintlichen Gossenkids dann so fest an die Brust zu drücken, dass sie fast erstickten. Die NDW war eben, wie der heutige Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG, Mathias Döpfner, und sein Kompagnon Thomas Garms 1984 behaupteten, „von den Ursprüngen bis hin zu ihren perversesten Auswüchsen ein frappierend ernstzunehmender Spiegel eines gesellschaftlichen Bewusstseins“, dem eine „Katalysatorfunktion einer sich wandelnden Jugendkultur“ zukam. Und sie war nicht nur, wie der ehemalige Chefredakteur des Musik Express, Hermann Haring, im selben Jahr schrieb, „ein Musikstil, der wie eine Dosis Adrenalin in schlaffe alte Blutbahnen gespritzt wurde, sondern eine komplette neue Szene, die in das festgefügte Unterhaltungsimperium hineinwucherte“.
Die „bunte Mischung aus Dilettanten, Amateuren, aktiven Punks und extravaganten Elektronik-Avantgardisten“ (Der Spiegel) wurde angetrieben von „überschäumender, manchmal wildwuchernder Experimentierlust, vom Spaß an witzigen Attacken und energiegeladener Rockmusik in der Punk-Tradition“ und reichte weit in die bildende Kunst hinein – bis zu Joseph Beuys, den wilden Malern um Martin Kippenberger, Werner Büttner und Albert Oehlen und dem aktuellen Star Daniel Richter. Die Vielfalt der Stile war jedenfalls kaum zu überblicken, wie die Augsburger Allgemeine 1981 fand: „Perfekte Disco-Musik, politischer Frust-Rock der Nach-Punk-Ära, Rock’n’Roll, kabarettistischer Nonsens und Trivial-Schlager sind angesagt. Auf der ’neuen deutschen Welle‘ schippern zahlreiche unabhängige Labels und etablierte Plattenfirmen. Traum und Wirklichkeit, Heiteres und Triviales – das ist nur eine Facette der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten der Deutsch-Rocker, die zum Sturm auf herkömmliche Hörgewohnheiten blasen.“
Hört man sich heute die alten Platten an, staunt man, wie vielfältig und kreativ die Bands waren. Eine Zeitlang sahen die Charts in Deutschland, wie Kai Havaii einmal anmerkte, in der Tat so aus, als habe sich jemand einen Scherz erlaubt und angloamerikanische Namen und Titel einfach durch deutsche ersetzt. Weshalb die NDW nicht nur für ihn „eine Art Urknall“ der deutschen Rock- und Pop-Musik war, die seitdem nie wieder so erfrischend geklungen habe. Denn der Deutschrock hörte sich schon bald wieder rechtschaffen und staatstragend an, und irgendwie riecht er auch heute noch vergammelt. Höchste Zeit für eine neue Welle. Lasst euch was einfallen.