Neue Studie: Erfolgsformel für Ohrwurm-Garanten gefunden
Forscher einer britischen Universität wollen mehrere Eigenschaften identifiziert haben, die ein Lied unvergesslich machen. Aber wie entsteht ein Ohrwurm?
ROLLING-STONE-Fundstück: November 2016
Man könnte diesen Text beginnen mit einer ganzen Reihe von Beispiel-Liedern, die jeder kennt und alle hassen, weil die ein oder andere Melodie Sie noch heute Abend vorm Einschlafen oder morgen früh unter der Dusche heimsuchen könnte. Das kann ja keiner wollen.
Schon seit Jahren versuchen Wissenschaftler herauszufinden, warum sich manche Songs so hartnäckig im Kopf festsetzen. Weil dies methodisch jedoch schwer zu messen ist, konnte das Phänomen bis heute nicht abschließend geklärt werden.Nun haben Psychologen der britischen Durham University immerhin mehrere Eigenschaften benannt, die einen Ohrwurm auszeichnen. Kelly Jakubowski und ihre Kollegen haben diese in dem Artikel „Dissecting an Earworm: Melodic Features and Song Popularity Predict Involuntary Musical Imagery“ im Fachmagazin „Psychology of Aesthetics, Creativity and the Arts“ veröffentlicht. „Involuntary Musical Imagery“ werden Ohrwürmer in englischer Fachsprache bezeichnet, ansonsten ist in der Alltagssprache von einem „earworm“ die Rede oder, weitaus geläufiger, von einem „sticky song“ – das Lied klebt sich regelrecht im Gehörgang fest.
Die 5 Ohrwurm-Garanten
Die Forscher haben dazu 3000 Teilnehmer gefragt, an welche Lieder sie sich am ehesten spontan erinnern und untersuchten diese anschließend auf Gemeinsamkeiten.
Folgende Charakteristika können zusammengefasst werden:
1.) Einfachheit. Ohrwürmer sind meist eingängige Melodien mit wechselnden Tonhöhen, vergleichbar mit Kinderliedern. Vor allem bleiben diese nachhaltig hängen, wenn die Töne erst steigen und dann fallen, ähnlich wie bei „Move Like Jagger“ von Maroon 5.
2.) Wiederholung. Je häufiger im Lied ein Hook wiederholt wird, umso besser sind die Chancen, dass es hängenbleibt. Dadurch weiß das Gehirn, was als nächstes kommt und kann dies anschließend im Kopf selbst reproduzieren. Wegen dem prägnanten Gitarrenriff bekommt man „Seven Nation Army“ von den White Stripes nur so schwer wieder aus dem Schädel. Außerdem ist diese wiederum einfach (1.) genug, um sie auch nach dem dritten Bier im Fußballstadion zu grölen. Und Lieder, die in den Charts erfolgreich sind, haben eine höhere Chance, zum Ohrwurm zu werden, weil sie so oft gespielt werden, dass man sich ihnen kaum entziehen kann.
3.) Überraschung. Ganz so einfach ist es mit dem Hit-Garant aber auch wieder nicht, denn für Erfolg braucht ein Lied auch das gewisse Etwas. Interessanterweise verhakt sich ein allzu simpler Song weniger wahrscheinlich im Kopf als einer mit ungewöhnlichen Intervallen und überraschenden Tonsprüngen oder Rhythmuswechseln. „My Sharona“ von The Knack etwa ist so ein Fall.
4.) Geschwindigkeit. Ein flotter Kracher bleibt einfach leichter hängen als ein elegisches Stück.
5.) Text. Mithilfe von Sprache bleibt eine Melodie leichter in der Erinnerung als ein reines Instrumentalstück. Andersherum ist davon auszugehen, dass das Nibelungenlied oder auch die Odyssee gesunden wurden – so viel Text kann sich ja kein Mensch merken.
Musikproduzenten dürften an dieser Stelle die Ohren spitzen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich ungefähr vorhersagen lässt, ob sich eine Melodie in den Köpfen der Menschen verfängt“, sagt die Psychologin Jakubowski. „Das könnte Songwritern oder Werbern helfen, Jingles zu schreiben, an die sich jeder tage- und monatelang erinnern wird.“
Ein Rezept für den perfekten Hit gibt es jedoch nur bis zu einem gewissen Grad, da der Erfolg eines Songs von vielen Faktoren abhängig ist, etwa von Stimmung, Mode oder der Sympathie für die Stimme der Sängerin oder des Sängers.
Die Liste der am häufigsten genannten Lieder der Probanden zeigt: Lady Gaga ist die Königin der Ohrwürmer.
- Bad Romance von Lady Gaga
- Can’t Get You Out Of My Head von Kylie Minogue
- Don’t Stop Believing von Journey
- Somebody That I Used To Know von Gotye
- Moves Like Jagger von Maroon 5
- California Gurls von Katy Perry
- Bohemian Rhapsody von Queen
- Alejandro von Lady Gaga
- Poker Face von Lady Gaga
Ein Ohrwurm: eine Art Selbstbefriedigung?
Meistens spukt ein Ohrwurm im Kopf herum in einer Situation, in der das Gehirn im Leerlauf ist, also etwa beim Auto fahren, Geschirr spülen oder unter der Dusche (es ist also kein Klischee, dort vor sich hin zu singen). Die eine Gehirnhälfte singt der anderen gewissermaßen etwas vor, besagt eine Theorie. Am häufigsten von Ohrwürmern befallen sind übrigens Musiker, weil diese sich eingehend mit Musik beschäftigen sowie in sich gekehrte Menschen, weil diese ihr Erleben eher aus sich selbst heraus speisen als Extrovertierte.Ein Ohrwurm: eine unvollendete Tatsache!
Warum aber kehrt ein Ohrwurm immer wieder? Hierfür liefert der sogenannte Zeigarnik-Effekt eine Erklärung: Dieser besagt, dass sich das Gehirn an unterbrochene Gedanken und unvollendete Aufgaben besser erinnert als an abgeschlossene, denn eine fertige Aufgabe wird innerlich abgehakt, während eine unfertige eine Spannung erzeugt: Das Gehirn möchte das Lied unbedingt zu Ende bringen. Meistens jedoch wird nur ein Fetzen des Musikstücks im Hinterkopf abgespult, weil man den Song häufig nicht in Gedanken vollenden kann, ohne dass man abgelenkt wird. Da das Hirn jedoch erst Ruhe gibt, wenn sein Vollendungswunsch befriedigt wird, meldet es sich immer wieder mit dem nervigen Gedudel.Das Haschen nach Aufmerksamkeit
Abhilfe schafft es, den Ohrwurm im Kopf zu Ende zu spielen. Denn auf Kommando verschwindet der Quälgeist in etwa so gut wie die Aufforderung: „Sei mal spontan!“ funktioniert. Es kann aber helfen, andere, „echte“ Musik zu hören, die das Gehirn ablenkt. Oder man kaut einen Kaugummi, da die Mundbewegung angeblich das akustische Gedächtnis hemmt.
Manche Wissenschaftler stehen in der Tradition Sigmund Freunds und sehen in dem immer wiederkehrenden Lied eine tiefere Botschaft: Da ist etwas im Unterbewusstsein, das um Aufmerksamkeit bettelt. Vielleicht ist das Lied mit einem Ort, einem Ereignis oder einem Menschen verknüpft, dem man sich widmen sollte.
Es ist tückisch: Der kleinste Schlüsselreiz kann einen Ohrwurm auslösen. Sie könnten schwören, dass Sie seit Monaten nicht mehr „Atemlos“ von Helene Fischer gehört haben und trotzdem lässt Sie der Gassenhauer nicht los? Vielleicht haben sich die Bilder der Sängerin auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor zur Feier des Fußball-Weltmeisterschaftstitels 2014 in Ihr Gedächtnis gebrannt, und jedes Mal, wenn sie jemanden im Deutschland-Trikot sehen, schießt die Melodie in Ihren Kopf, ohne dass Sie diese kürzlich irgendwo gehört haben. Denn akustische Erinnerung löst ähnliche starke Gefühle aus wie Gerüche.
Musik als Folter
Jedoch wollen die Forscher aus Durham nachgewiesen haben, dass man sich häufiger Songs merkt, die man mag. Eine andere These aus der Neurologie besagt jedoch, dass man sich leichter an ein Lied erinnert, von dem man genervt ist, da Abneigung gewissermaßen aufmerksam macht.
Im Gefangenenlager Guantánamo wurde Dauerbeschallung übrigens als „weiche“ Foltermethode eingesetzt, vor allem durch Lautstärke. Dort sollten unter anderem Songs von Metallica oder AC/DC die Häftlinge in den Wahnsinn treiben.