Zug der Liebe in Berlin: Die Probleme werden weggetanzt
Sie wollen keine Neuauflage sein, nennen sich aber "Zug der Liebe": Zum ersten Mal seit dem Ortswechsel zieht wieder eine Techno-Parade durch Berlin – ohne jedes Gedenken an die Opfer von Duisburg. Von Daniel Krüger
Die Liebe ist ein kompliziertes Ding. Hinter den fünf Buchstaben versteckt sich eine Gefühlspalette, die in ein Wort zu pressen eigentlich ein sinnloses Unterfangen ist. Hinter dem Begriff Liebe verbirgt sich Glück, Unglück, Geborgenheit, Schmerz und manchmal eben auch Sehnsucht. Und um die Sehnsucht ging es an diesem Samstag in Berlin. Die Sehnsucht nach dem großen Fest, das wieder alle zusammenbringt. Musik unter freiem Himmel, freie Menschen, freie Körper, freie Liebe. So wie damals.
Die Love-Parade zog 1989 das erste Mal durch Berlin. Ein paar Typen tanzten den Kurfürstendamm entlang und ahnten wohl kaum, welches Event sie damit erschaffen würden: Hunderttausende Raver auf der Straße des 17. Juni, Tonnen von Müll und „RTL 2“ mit stundenlanger Live-Schalte. Dann ging es von Berlin in das Ruhrgebiet. Und dann kam die Katastrophe von Duisburg am 24. Juli 2010. 21 Menschen starben bei einer Massenpanik auf einer Love-Parade, die bis auf den Namen nichts mehr mit ihren Wurzeln gemein hatte.
An diesem Samstag, fünf Jahre und einen Tag nach der Tragödie von Duisburg, zieht wieder eine Technoparade durch Berlin. Und kämpft mit einem schweren Erbe. „Zug der Liebe“ heißt die neue Veranstaltung, die bereits Monate zuvor als „neue Love-Parade“ gehandelt wurde. Die Veranstalter haben sich bemüht, bloß keine Vergleiche zum ursprünglichen Event aufkommen zu lassen.
Doch wer einen als Demonstration getarnten Rave durch die Straßen Berlins ziehen lässt, der muss sich eben automatisch mit der Love-Parade vergleichen lassen. Vor allem, wenn man dazu noch das Wort „Liebe“ in den Namen einflechtet. Schließlich hat der angeblich ungewollte Hype um „die neue Love-Parade“ nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass der Umzug mehr Besucher anlockte, als es die Veranstalter offiziell erwartet hatten.
Rosa Haare, Lederweste, silberner Slip
Mit 15.000 Leuten hatten sie gerechnet, am Ende waren es laut Polizeiangaben einige Tausend mehr. Und natürlichen wussten alle Beteiligten, dass der „Zug der Liebe“ keinem Vergleich mit dem gigantischen Elektro-Fest standhalten kann, das 2006 zum letzten Mal in Berlin gefeiert wurde. Dennoch war bei dem „Zug der Liebe“ ein Stück weit jene Atmosphäre zu spüren, die noch vor wenigen Jahren die Sternstraßen um die Berliner Siegessäule füllte. Spektakel, Multikulti, schreckliche Outfits.
Da ist zum Beispiel Martin. 42 Jahre alt, die Haare rosa gefärbt und zu Spitzen hochdrapiert. Er trägt eine Lederweste und einen silbernen Slip, der wenig Raum für Interpretationen lässt. „Ich hab‘ das Ding schon 1996 abgefeiert, wird Zeit, dass es wieder hier ist“, schreit er neben einem der 14 Wagen tanzend. Die Bemerkung, dass das hier ja nicht „das Ding“, also die Love-Parade, sei, akzeptiert er nicht. „Guck es dir doch an Mensch!“, ruft er.
Martin hat Recht, wenn auch nur teilweise. Ja, es läuft Elektro (Techno darf man im Jahr 2015 nicht mehr sagen). Ja, es sind bunte Wagen, denen man treudoof hinterherläuft. Ja, viele Leute sehen aus, als hätten sie sich direkt aus den späten 90ern auf den „Zug der Liebe“ 2015 gebeamt. Fellstiefel, Warnwesten, Glitzerhosen. Modische Sünden, die für Rave-Nostalgie sorgen, bis sie von der Masse der normal Gekleideten verschluckt werden.
Aber es gibt auch viele Unterschiede zur alten Parade: Sie ist nicht mehr der Mittelpunkt Berlins. Bei der Love-Parade nahm die Stadt sogar in Kauf, dass die Hunderttausenden Tanzenden den Tiergarten zumüllten und mit der Straße des 17. Juni das Zentrum der Stadt blockierten. Der „Zug der Liebe“ bekam lediglich zehn Kilometer Strecke durch Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Kreuzberg und Treptow zugesprochen.
„Mach sofort die Mucke wieder an, oder ick werd wild“
„Klar, es ist heute nicht das Gleiche. Aber es fühlt sich schon ein kleines bisschen wie damals an.“
Die größte Differenz mit Scheiterpotenzial: Die Veranstalter versuchen tatsächlich, politisch zu sein. Die Love-Parade hatte in jedem Jahr ein Motto, das über dem Spektakel stand und so banal war, dass sich jeder, egal welcher Herkunft oder politischen Einstellung, darunter wiederfinden konnte. „Friede, Freude, Eierkuchen“ hieß es im Jahr 1989, „One World, One Future“ 1998.
Die Macher vom „Zug der Liebe“ sind der Meinung, dass diese Simplizität im Jahr 2015 nicht mehr funktioniert. Also wirbt jeder Wagen für einen bestimmten Verein, der die Feierwütigen wiederum mit einem bestimmten Problem konfrontieren soll.
Und so tanzen Menschen hinter Wagen, an deren Seiten „Flüchtlinge Willkommen“ oder „Techno-Türken gegen Diskriminierung“ steht. Pro Wagen ein beworbener Verein, pro Verein ein Sprecher bei der Kundgebung vor dem Start des Zehnkilometermarsches durch Berlin. Die Startkundgebung bekommt kaum jemand mit, die Masse will nur, dass die Party endlich beginnt. An einem Samstag in Berlin ist Musik schlichtweg wichtiger als politisches Engagement.
Als der Wagen mit der Flüchtlingsthematik mitten im Umzug die Musik abdreht, um einen Sprecher kurz für eine menschlichere EU-Grenzpolitik werben zu lassen, wird dies mit einem humorlosen „Mach sofort die Mucke wieder an, oder ick werd hier wild“ kommentiert.
Die Masse will keine Politik. Sie will nur an jenem Lebensgefühl schnuppern, das vor einigen Jahren von der Siegessäule aus um die Welt ging. Musik, Spaß, sich gehen lassen. Vergessen, dass man mit der Trillerpfeife im Mund tanzend wie der letzte Trottel aussieht. Wann hat man in der hippen Berliner Elektro-Szene eigentlich zuletzt Trillerpfeifen gesehen? Das muss wohl wirklich 2006 auf der Love-Parade gewesen sein.
Keine Geste für Duisburg
Trotz der Ausgelassenheit und kollektiven Überraschung, dass der „Zug der Liebe“ besser funktioniert als vorher erwartet, vergessen viele Tanzende an diesem Nachmittag nicht, was sich 2010 in Duisburg abgespielt hat. „Natürlich schwingt das heute irgendwie mit, die Toten auf der letzten Love-Parade“, sagt ein Besucher, bevor sich der Zug in Bewegung setzt. Viele erwarten, dass an das Unglück vor fünf Jahren erinnert, vielleicht sogar eine Schweigeminute gehalten wird. Doch die große Geste bleibt aus.
Der Termin, fast genau fünf Jahre nach der Katastrophe, sei übrigens kein Statement, versicherten die Veranstalter wenige Tage vor dem Event auf einer Pressekonferenz. Es ginge einfach nicht anders. Außerdem, sagt ein Sprecher, wäre man am liebsten durch Freital gezogen. Ein Zeichen für Toleranz, Menschenrechte und eben Liebe sei dort, wo es in den vergangenen Wochen Proteste gegen Flüchtlinge gab, aktuell wohl nötiger als in Berlin.
Die Hauptstadt hat ganz andere Probleme, die während des Zuges aber weggetanzt werden. Für ein paar Stunden im Juli einfach nur einem Wagen mit Musik hinterher. Das kann man zwar auch auf dem Christopher Street Day und dem Karneval der Kulturen, aber die Love-Parade war eben die Love-Parade. Und genau so etwas, einen als Engagement getarnten Rave, die erste große Liebe, haben Zehntausende anscheinend vermisst.
Ahmet war angeblich bei der allerersten Love-Parade 1989 dabei: „Klar, es ist heute nicht das Gleiche. Aber es fühlt sich schon ein kleines bisschen wie damals an.“ Das kleine bisschen muss für den ersten „Zug der Liebe“ reichen. Bis nächstes Jahr, wenn er dann überhaupt wieder stattfindet. Das lassen die Veranstalter bislang offen. Warum wollen sie nicht sagen. Die Liebe ist eben ein kompliziertes Ding.
Erscheint mit freundlicher Genehmigung der Kollegen von Welt.de.