Neo Southern-Soul
Ist das wirklich dieselbe Frau? Noch am Vorabend, auf der Bühne des Londoner „Embassy Room“, hatte Shelby Lynne die Pose des stolzen Schwans gesucht Am Tag danach kauert sie wie ein scheues, wenn auch gewiss nicht hässüches Entlein in ihrer Hotelsuite mit Aussicht. Da sind Unrast und Unbehagen spürbar, die sie mit jedem Blick in den Park da draußen zu besänftigen sucht Und sie blickt oft nach draußen – so, als könne der Horizont hinter der Scheibe alle Erinnerungen aulsaugen, jegliche Erklärung überflüssig machen.
Schließlich hat sie auf ihrem neuen Album die Karten offen auf den Tisch gelegt: Schmerz, Verzweiflung, Verlangen. Und gleichzeitig ist da die wundervolle Ahnung, all das mit diesem ebenso einfach wie subtil inszenierten Neo-Southern-Soul wenigstens temporär vergessen machen zu können. J.Am Shelby Lynne“heiik das Album, nicht zufallig. Denn die, die vorher bereits fünf Platten in Nashville gemacht hatte, war nur ihre äußere Hülle. Oder: ein von Selbstzweifehl zerfressener Interessenspielball, der den Einflüsterungen der Entourage folgte, weil das Vertrauen zu sich selbst (noch) fehlte. Dabei hatte es damals, 1988, so gut angefangen: Die erste Single ist gleich ein Duett mit George Jones. „Ich dachte an einen Witz, als man mich fragte, ob ich mit George singen möchte. War aber kein Witz. Habe mir den Song grad nochmal angehört. Ist nicht übeL“ Sie krönt ihren süffigen southern drawl mit einem kurzen Lacher.
Das Lachen in Nashville verging ihr schnell. Da war bald „das Gefühl, ich hätte eh nichts zu sagen. Ich mochte es nie, wenn man mir etwas vorschreiben wollte. Nashville hat Probleme, das nicht zu tun. Ist kein guter Platz für Individualisten. Es betäubte mich förmlich.“
Als sie endlich aufwachte, lief sie gegen die Wände des Systems. „Furchtbar, wie sie Songs schreiben dort Du triffst dich mit einem dieser Fließband-Songschreiber und haust ’ne Nummer raus. Und so klingen sie dann auch.“
Schließlich sparte sie sich Mühe und Frust ganz. „Hätte nicht funktioniert“, sagt sie. „Diese Songs sind dafür zu reaL“ So wie sie einst nach Nashville in die Musik geflüchtet war, nachdem sie 17-jährig mit ansehen musste, wie ihr Vater ihre Mutter erschoss (und dann sich selbst), so flüchtete Lynne jetzt zurück nach Mobile, Alabama. Sie „hatte schon aufgegeben, wollte eigentlich keine Platte mehr machen.“ Doch da waren „diese Songs, die ich immerzu schrieb.“ Und sie erinnerte sich „dieser Wärme“, die Bill Bottrell einst in Sheryl Crows „Tuesday Night Music Cutb“
generiert hatte, dieser „Mischung aus Country-Roots und Rock’n’Roll-Attitüde“. Bottrell karrte sein Equipment zuerst nach Mobile, später wurden die Sessions in sein Westeoast-Studio verlagert Und nach Memphis, der Streicher wegen. „Ich wollte keine Nashville- oder L.A.-Strings, sondern dieses Bobby-Gentry-,Ode-To-Billie-Joe‘-Feeling. Und es funktionierte perfekt Ich Hebe die Streicher auf der Platte!“
„Where Fm From“ ist der vielleicht schönste unter vielen schönen Songs eine magische Dixie-Beschwörung jenseits der Postkarten-Klischees. Es ist die Liebeserklärung einer Liebenden, die nie wieder zum Objekt ihrer Liebe zurückkehren kann. Lynne lebt heute in Florida. Über ihre alte Heimat sagt sie: „Vermiss ich manchmal. Aber ich hab nicht die Geduld, um es dort wirklich genießen zu können. I’ll git ma fill – an‘ I’m out.“