Neo Rauch – Rock’n’Roll mit Pinselstrich

Mai 2010 Die ganze Welt bestaunt seine Gemälde, Sammler reißen sich um sie: Zum 50. Geburtstag von Neo Rauch hatten wir dem berühmten Maler und großen Musikfan unsere Titelseite "geschenkt". Er bedankte sich mit zwei exklusiven Cover-Varianten - und lud uns zum Gespräch über den richtigen Sound.

Ein Königreich des Feinsinns muss vor den Zumutungen der Außenwelt möglichst gut versteckt werden. „Anklopfen!! Dann auf, Herein!‘ warten!“, steht unwirsch auf dem Schild an der Tür, die man nach langem Weg über Lastenaufzüge und durch trübe beleuchtete Korridore in einem der verwittert aussehenden Klinkerbauten der ehemaligen Baumwollspinnerei Leipzig- Plagwitz findet. Hinter dieser Pforte wartet eine Parallelwelt, die fast zu poetisch, naturecht und wohltemperiert ist, um wirklich wahr zu sein.

Das Atelier des Malers Neo Rauch gehört sicher – neben Kanzleramt und Deutsche-Bank-Turm – zu den in der Presse am detailliertesten beschriebenen Arbeitsplätzen Deutschlands. Trotzdem staunt man erst mal über so viel Licht, Holz, Grün. Eine Discokugel blitzt in der Sonne, in der Ess-Ecke serviert Ateliernachbar Tilo Baumgärtel mehrfarbige Nudeln mit Hackfleischsoße, der Silvaner ist richtig gekühlt. Und der smarte Herr des Saals, in Jeans und schwarzem Hemd, ein geradezu beängstigend gut aussehender Mann, setzt sich und erzählt in sanft modulierten und druckreifen Sätzen von teilweise Thomas Bernhard’scher Dimension über seine Vorbereitung für den Leipziger Stadtmarathon und die Feier zum eigenen 50. Geburtstag. „Ich möchte nicht noch einmal 30 sein, höchstens, wenn ich dann so sein könnte wie heute. Der 30-Jährige, der ich war, war ja so eine Lusche …“ Dann schaut seine Frau vorbei, die Malerin Rosa Loy, und bringt ihm Cranberrysaft mit.

Ganz so ungebrochen heil ist diese Welt freilich nicht. Hier hängt auch ein professioneller Sandsack von der Decke, der dem Meister als Blitzableiter dient. Kunstvoll wird der dann bearbeitet, mit Fäusten und Füßen, denn Rauch hat sein Karatetraining von einst wieder aufgenommen, Stilrichtung Shotokan, blauer Gürtel, zweimal in der Woche Training, gelegentliche Veilchen nimmt er in Kauf: „Die Haut um meine Augen ist etwas empfindlich.“

Erst kürzlich ließ er den ganzen Nachmittag Dampf am Ledersack ab, erzürnt über eine unflätige Kritik seines Werks, das weltweit begehrt wird. Er ist einer der besten und erfolgreichsten deutschen Maler, aber immer mal wieder muss er sich anhören, seine Gemälde seien vor allem bedeutungsheuchelnder Kitsch. Seine großformatigen, vielfarbig leuchtenden, scharf gestellten Öl-Tableaus, auf denen – inspiriert von amerikanischer Pop-Art und Leipziger Figurentradition – „Menschen in seltsamen Räumen rätselhafte Dinge tun“ („Bild“), gelten einigen als Provokation. Und ebenso vielen anderen als eine Erlösung von den lustfreien Videoinstallationen und Konzeptwerken der 90er- und 00er-Kunstschauen. Die 15 bis 20 großen Bilder, die Rauch pro Jahr malt, erzielen heute bis zu 700 000 Euro, er war 2007 der erste lebende deutsche Künstler, der eine eigene Ausstellung im New Yorker Metropolitan Museum bekam. Sein Galerist Gerd Harry „Judy“ Lybke könnte mit verzweifelten Anfragen von Sammlern aus aller Welt sein Büro tapezieren.

Dass Neo Rauch zuletzt nicht nur ein Plattencover für die Leipziger Rockband ZIN gemalt hat, sondern auch extra für das ROLLING STONE-Cover der Mai-Ausgabe zwei Originalbilder anfertigte, zeigt zudem, wie Rock’n’Roll-tauglich der größte internationale Popstar der deutschen Gegenwartskunst ist. Neben seiner Atelier-Stereoanlage stapeln sich CDs von Antony & The Johnsons, den Goldenen Zitronen, Astrud Gilberto und den Yeah Yeah Yeahs. Völlig klar: Er nimmt die Musik ernst.

Herr Rauch, welche Musik haben Sie gehört, als Sie die ROLLING STONE-Cover gemalt haben?

Das ist gar nicht nebensächlich. Die Musik greift ja unterschwellig ein in das, was man dem Pinsel anvertraut. Aber was habe ich eigentlich gehört? Ich hatte vor allem Wilco im Ohr, die CD mit dem Ei vorne drauf („A Ghost Is Born“, Anm. d. Red.) – hochgradig intelligente Musik und Arrangements. Wenn es dann zu intelligent wurde, musste ich manchmal auch ein bisschen gegensteuern, mit Danko Jones. Der Druckposten als Kontrastprogramm zum Feinnervigen.

Auch „The Drift“ von Scott WaIker liegt neben Ihrem CD-Player. Eine der umstrittensten Platten der letzten Zeit.

Sie begleitet mich, seit sie vor vier Jahren erschienen ist. Hier in meinem Arbeitsraum entfaltet sie ihre akustische Präsenz mit hoher Zuverlässigkeit: Eine ganze Reihe von Bildfamilien, von Großformaten, die hier gleichzeitig emporgewachsen sind, hat sich unter den Walker’schen Klangflächen entfaltet. Diese Musik ist ja wie ein magmatischer Strom, der sich durch den Raum wälzt. Nichts, was starke Spitzen aussenden würde oder zu starke rhythmische Gliederungen. Manche meiner Bilder lechzen nach einem akustischen Grundklima, zu dem nichts anderes passen würde.

Drehen Sie dann richtig auf?

Ich höre das dann schon in einer forcierten Lautstärke, die jeden Handyrufton übertönt. Es gibt bei der Arbeit natürlich auch Momente, in denen ich knisternde Stille brauche. Das sind meistens Situationen, in denen die Grundlagen eines noch zu malenden Bildes ersonnen oder, noch besser: empfangen werden. Bestimmte Arten von klassischer Musik funktionieren da auch, Debussy oder Ravel, die die Seele subtil massieren und nicht radikal durchrhythmisieren. Wenn das innere Bild einen höheren Grad an Stabilität erlangt hat, brauche ich einen Tritt ins Kreuz, der mich aus dem Sessel befördert. Dann kommen Kollegen wie die Manic Street Preachers, Danko Jones oder die White Stripes zum Zuge.

Sie haben einen erstaunlich coolen Geschmack. Woher kommen die Platten? Kaufen Sie die selbst?

Leider viel zu selten. Und wenn ich im Drogeriemarkt Müller stehe, habe ich auch schon vergessen, was ich wollte. Von tausend Seiten springen mich dann die CD-Cover an, und ich zupfe aus den Regalen das raus, was mich visuell reizt.

Sie kaufen Platten nach den Coverbildern?

Ja, aber nicht ganz beliebig. Ich bearbeite vorwiegend die Independent-Schiene. Ein dramatisches Auseinanderklaffen zwischen einem guten Cover und der Qualität der musikalischen Darbietung musste ich dabei übrigens noch nicht konstatieren. Nur die Liedtexte sind mir ganz und gar unwichtig – die Stimme ist für mich ein Instrument. Das wird mir besonders deutlich, wenn ich deutsche Bands höre: Ich wünsche mir dann meistens, sie hätten sich der englischen Sprache bedient. Weil mich die Informationen, die sie in ihrem Gesang transportieren, einfach nicht interessieren.

Sind Sie dann ganz auf der Wellenlänge Ihrer Studenten?

Nicht unbedingt. Manchmal versorgen auch sie mich mit CDs, weil sie genau wissen, was mir zusagt. Aber andersherum gibt es einiges, was ich bei den jungen Hörern nicht nachvollziehen kann. Die ganze Techno-Kultur zum Beispiel ist mir vollkommen fremd.

Aber DJs singen wenigstens nicht!

Das hat damit nichts zu tun. Grob gefasst gibt es ja zwei Arten von Musik: Die eine macht ihre Hörer schöner, die andere macht sie hässlicher. Dazu

zählt meiner Ansicht nach Techno. Und damit meine ich die Scheiße, die aus den tiefergelegten Golfs mit den schwarzen Heckscheiben klingt. Dieses prollige Zeug, das aber irritierenderweise auch auf Intellektuellenpartys aufgelegt wird. Die ich spätestens in dem Moment verlasse, in dem der ziegenbärtige DJ mit der Designerbrille diesen Müll zu Gehör bringt. Da fühle ich mich auch tänzerisch unterfordert.

Sie sind Tänzer, nicht Steher?

Ich bin eher Tänzer, aber kein Eintänzer. Wenn schon einige andere angefangen haben, mache ich gerne mit. Vorher brauche ich natürlich trotzdem ein paar doppelte Wodka. Ich würde niemals nüchtern eine Tanzfläche betreten.

Was war Ihre letzte gute Party?

Meine Ausstellungseröffnung in Berlin, vergangenen September. Ich hatte die Plattenauflegerin gut instruiert und vor allem sichergestellt, dass es einen sicheren Korpus aus Ramones und damit zusammenhängenden Komponenten gab. Das ist zuverlässige Partyrettungsmusik.

Wo wir schon beginnen, den Kanon zu definieren: Was war Ihre erste Platte?

Dazu muss man unbedingt die Besonderheiten meiner Sozialisation berücksichtigen: Dem Vergleich mit gleichaltrigen Westdeutschen halte ich in der Hinsicht natürlich nicht stand. Mit 14 bekam ich zur Jugendweihe das Geld für meinen ersten Radiorekorder. Nach der Schule setzte ich mich dann hin und hörte Radio BFBS (den Sender für im Ausland stationierte britische Soldaten, Anm. d. Red.). Da kam ich gleich an die richtigen Absender: Die spielten Stranglers, Adverts, Saints, Iggy Pop, Sex Pistols.

Hatte das im Vorharzland, wo Sie wohnten, den Reiz des Illegalen?

Gar nicht so sehr. Westsender hat jeder gehört, das war kein Problem, man musste es ja nicht gleich dem Klassenlehrer erzählen. Aber was überhaupt nicht zur Verfügung stand, war diese Flut an Informationen. Ich habe die Musik gehört, hatte aber gar keine Vorstellung, wie diese Jungs aussahen. Ich bin ja in einer Kleinstadt aufgewachsen, da waren die Quellen für solches Material so überschaubar wie das Freizeitangebot. Bands wie Black Sabbath und UFO standen bei meinen Klassenkameraden hoch im Kurs. Und natürlich die Rolling Stones, das ist klar. Die Musik der bösen Jungs.

Aber Punk faszinierte Sie mehr.

Ja, dieses Wilde, unmittelbar in die Muskelfaserstruktur Überspringende, Widerspenstige. Obwohl mir damals nicht klar war, womit diese Sänger eigentlich ein Problem hatten, wogegen sie ankotzten. Das konnte ja alles nicht mal ansatzweise so schlimm sein wie das, was uns umgab!

Konnten Sie den britischen Punk denn so umfunktionieren, dass er zum Symbol für Ihre eigene Opposition zum DDR-Regime wurde?

Nein, für mich war die Musik damals eine Rückzugszone. Ich war ja eher ein Einzelgänger, kein Sportplatzprinz oder Discoschläger. Meine Schulkameraden interessierten sich vor allem für Fußball und Skat. Mit beidem hatte ich nichts zu tun.

Was haben Sie dann die ganze Zeit gemacht?

Gezeichnet, gelesen, Radio BFBS gehört. Ich war eine randständige Figur, ein Sonderling, ohne dafür gemobbt zu werden. Ich habe mich von klein auf in einer Verkapselungssituation wiedergefunden, hatte meine wohlige Höhle, die ich selbst ausstaffieren und verwalten konnte.

Klingt ein wenig verzweifelt.

Überhaupt nicht! In größeren Gruppen, in denen die Meinungsführer dominierten, habe ich mich immer am einsamsten gefühlt – aber mit mir allein kam ich zurecht: in einer Welt der Bücher, ab 16 dann im Gewölk überparfümierten Pfeifentabaks … Das Pfeiferauchen war natürlich eine Attitüde. Eine Pose, die ich aus atmosphärischen Gründen einnahm, weil es meiner Vorstellung vom Dandy entsprach.

Haben Sie später mal überlegt, als was für eine Art von Maler Sie gesehen werden wollen? Als feiner Kaffeehauskünstler oder als wilder Naturbursche?

Das ist der falsche Ansatz. Es gab eher eine Reihe von Ausschlussverfahren, die sich einander in meinem Leben kaskadenartig ablösten. Was geht nicht mehr, was hat sich vernutzt? Da habe ich seit meinem 14. Lebensjahr einige Stationen durchlaufen …

Kleidung ist bei Künstlern schon auch als Ausdruck von Haltung zu sehen, oder?

Kleidung ist immer Haltung. Was ich mittlerweile geringschätze, ist eher die gänzliche Abwesenheit von Eitelkeit. Man gibt damit zu erkennen: Es ist mir völlig schnurz, was ihr von mir denkt, ich nehme euch nicht wichtig. Ein gewisses Maß an Dressur, an Arbeit am eigenen Erscheinungsbild ist auch ein Ausdruck dessen, dass ich mein Gegenüber ernst nehme.

David Bowie meinte mal, er fühle sich in einer Art ewiger Pubertät gefangen, die es ihm erlaube, sich immer wieder zu wandeln. Können Sie das

nachempfinden?

Ich würde nicht Pubertät sagen, sondern Kindheit. Die Kindheit ist ein viel vorurteilsfreierer Erfahrungs- und Selbstdefinitionsraum. Die Pubertät kennzeichnet sich ja oft durch radikales Spießertum. Der Pubertierende ist der schlimmste Spießer, den man sich vorstellen kann: Der weiß ja immer ganz genau, was alles nicht geht. Wie der muffige Hausmeister: „Also, das geht jetzt aber so nicht!“ Das Kind dagegen ist viel offener, es kann vorbehaltlos staunen und ergriffen sein.

Als Künstler hat man ja eine Identität zu verteidigen. Ganz Kind sein kann man da nicht mehr.

Leider nicht. Obwohl manche das trotzdem können. Picasso hat sich das bis ins hohe Alter bewahrt: Sein Spätwerk ist rein kindhaft, würde ich sagen. Jemand wie ich pubertiert dagegen noch mit 50 in hohem Maße. Aber ich versuche, das in Zukunft wieder stärker freizuschalten. Das hingebungsvolle Spielen, das sich an keinem Comment orientieren muss.

Wäre es denkbar, dass Sie eines Morgens aufwachen und beginnen, plötzlich vollkommen andere Bilder zu malen, wie auf einem ganz neuen Spielplatz?

Nein, und das wäre auch nicht wünschenswert. Wenn, dann müssten das kleine, infantile Exzesse sein, die sich innerhalb der über Jahrzehnte entstandenen Grundstrukturen entfalten. Es gibt gewisse Fundamente, die sich im Lauf des Erwachsenwerdens freilegen. So wörtlich verstehe ich den Begriff Entwicklung: das Freiwickeln des Wesenskerns, das Beiseitetun von Attitüden und Andressiertem.

Sie werden ja auch immer wieder massiv kritisiert und angefeindet. Wirft einen solche Kritik nicht in die künstlerische Pubertät zurück, in die Phase der Konfrontation?

Da muss man unterscheiden: Was wird geschrieben? Auf eine Kritik, die eliminatorischen Charakter trägt, so in der Art: „Die Welt wäre schöner ohne dieses Geschmiere“, kann ich nur sagen: Lasst mich zurückschießen! Ich will nun meinerseits einen tödlichen Schuss anbringen! Aber das ist ja leider Gottes nicht möglich – oder Gott sei Dank. (lacht) Wir leben ja in keiner Satisfaktionsgesellschaft. Ich hätte genug Gründe zu Duellen gehabt …

Sind Sie ein guter Schütze?

Und ob! Auf der anderen Seite haben auch die gröbsten Anfeindungen in mir einen kreativen Impuls ausgelöst. Anstelle des nicht stattgefundenen Duells: ein Bild! Jetzt erst recht! Wenn du das nicht willst, was ich mache, dann kriegst du’s doppelt und dreifach! Das ist wohl die beste Art und Weise, mit solchen Dingen umzugehen.

Viele Menschen glauben, dass Kunst erst durch den Exzess authentisch wird. Sind Ihnen solche Gedanken vertraut?

Das kann ich nicht ohne Weiteres beantworten. Völlig fremd oder vertraut, es liegt irgendwo in der Mitte. Mein Leben ist nicht frei gewesen von exzessiven Momenten, aber sie haben nie ein Maß erreicht, in dem selbstzerstörerische Kapazitäten freigesetzt worden wären. Ich verfüge über ein sehr stabiles narzisstisches Abwehrsystem.

Wenn in den 70er- und 80er-Jahren gekifft wurde, haben Sie da mitgemacht?

Ich habe das aus reiner Neugier probiert. Als nie ganz überzeugender Partystimmungs-Multiplikator hat es natürlich eine Rolle in meinem Leben gespielt – aber dabei ist nie etwas Nennenswertes passiert. Ich bin eigentlich immer mit dem Wodka gut gefahren. Der bringt mich, wenn es sein muss und ich es will, in eine sehr beschwingte Gemütslage.

Um noch mal die Analogie zur Musik zu bemühen: Da heißt es ja oft, eine existenzielle Verzweiflung sei notwendig, um wirklich kreativ sein zu können. Ist das bei Ihnen auch so?

Ganz bestimmt. Ich denke, seit meinem frühkindlichen Trauma ist dieser Unglücksstrom fest in meiner Seelenlandschaft verortet. Ich muss ihn nur anzapfen. In mir gibt es eine Grundstimmung in Moll, die ich nicht zusätzlich verstärken muss. Ich habe im Alter von sechs Wochen meine Eltern verloren, das begleitet mich natürlich. Und das blüht als Grundmuster sogar immer stärker in mir auf, je älter ich werde.

Wie erklären Sie sich das?

Es hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich mittlerweile alt genug wäre, um der Vater meiner Eltern zu sein. Sie waren 20, als sie bei einem Zugunglück ums Leben kamen. Aus der Sicht eines Vaters blicke ich heute in einer ganz neuen Unmittelbarkeit auf diese Tragik.

Der zurückgezogen lebende, melancholische Teenager Neo Rauch ging 1981 aus dem Haus der Großeltern weg, Richtung Kunststudium in Leipzig. Forsch gefragt: Blühten Sie da endlich auf?

Das war ohnehin eine ganz andere Zeit in den 80er-Jahren, als mich die Nationale Volksarmee aus ihren Fängen entließ und ich nach Leipzig kam. Das war ein Wechselbad der Gefühle, wie man es sich schriller, akzentuierter gar nicht vorstellen kann. Das Leben hier war hochgradig promiskuitiv, es herrschten größte Freizügigkeit und intensivste, grenzenlose Lustentfaltung. Die Partys an der Kunsthochschule waren legendär, alle wollten da hin, die ganze Stadt war darauf fixiert. Man stand wirklich Schlange, um in diesen Club zu kommen.

War das das Rock’n’Roll-Leben, um das sogar die Wessis Sie beneideten?

Kann man fast so sagen. Wir hatten hier auch kein Problem mit feministischen Grundsatzdebatten, die mussten nicht geführt werden. Bei uns musste kein Mädchen erst klarstellen, dass es kein Lustobjekt sein wollte. Die hatten alle Spaß an den sinnlichen Dingen. Das ist natürlich alles lange her, Judy Lybke, den ich damals kennengelernt habe, könnte dazu auch einiges erzählen. Und ohnehin ist die Nachtseite meiner Existenz durch das wärmende und sichernde Leben mit Rosa aufgefangen worden.

Im Westen waren es gerade die hochpolitisierten Hochschulen, in denen Körperlichkeit verpönt war.

Tja, herzliches Beileid. In den Männerwohngemeinschaften im Westen wurde dafür nächtelang Doppelkopf gespielt, wie ich gehört habe. Weil alles andere eh keinen Zweck hatte.

Zeit für Aufstände gab es ja trotz Sex und Doppelkopf auf beiden Seiten der Mauer. So wie Punk und später Techno mit vielen Idealen der Vorgenerationen aufräumten – gab es solche Revolten für Sie auch in der Kunst?

Unbedingt. Ich ging ja eigentlich an die Hochschule, um mich in diese klassische Spur einführen zu lassen, die figurative Malerei typisch Leipziger Prägung. Und dann gab es plötzlich diese unerhörten Vorgänge jenseits der Zonengrenze, die Neue Wilde Malerei, Walter Dahn, Rainer Fetting und so weiter, deren Schaffen ja auch unlösbar mit Punk und Post-Punk verbunden ist. Rückblickend kann ich sagen, dass es für mich wichtig war, da eine Zeit lang mitgemacht zu haben: diese Erfahrung des Außer-sich-Seins, des weitestmöglichen Sich-Entfernens von den eigenen Fundamenten. Irgendwann habe ich mich dann wieder auf meine Randständigkeit besonnen. Ich wollte nicht im Rudel feiern. Ich wollte lieber die Eigentümlichkeit meiner Position ergründen.

Aber bleiben nicht auch am Maler ab und zu ein paar Modeerscheinungen hängen?

Da müsste ich mich schon sehr anstrengen, um solche Indizien in meinem Werk zu finden. Im Gegenteil, ich habe immer versucht, in dem Moment die Kurve zu kriegen, in dem die stilistischen Vorlieben einer Dekade ihre Tentakel nach mir ausstrecken. Aber wie soll man das heute beschreiben: Was liegt in der Luft, was ist die tonangebende Linie? In den 80er-Jahren war das noch viel übersichtlicher. Den gegenwärtigen Zustand empfinde ich da als angenehmer: Es gibt Tausende von Bohrstellen, Baugruben, Goldgruben nebeneinander.

Heute sucht auch die Politik mehr denn je die Nähe zur Kunst. Würde es Sie berühren, wenn ein Politiker wie zum Beispiel Guido Westerwelle sich ein Bild von Ihnen kaufen würde?

Soweit ich weiß, besitzt er schon eines, eine Grafik – aber so genau bekomme ich das ja gar nicht mit. Ich gehöre ja auch nicht zu den Politiker-Verächtern. Auch die SPD hat vor vielen Jahren mal eines meiner Werke gekauft: das sogenannte Energie-Bild. Das kann sie im Moment sicher gut gebrauchen. (lacht)

Brad Pitt besitzt eines Ihrer Gemälde, Sammler aus aller Welt würden Ihnen alles abkaufen – im Ausland repräsentieren Sie Deutschland. Will man als Maler solche diplomatischen Funktionen erfüllen?

Es ist mir grundsätzlich angenehm, wenn ich als Deutscher wahrgenommen werde – weil ich keiner der landläufig üblichen Formen des Eskapismus huldige. Mich nervt viel mehr diese selbstvergessene Fassungslosigkeit, dieses Nicht-Verweilenkönnen in einem Definitionsrahmen, das die Haltung gewisser Teile der Linken bestimmt. Mein New Yorker Galerist David Zwirner hat mal zu mir gesagt hat, er fände diesen deutschen Aspekt in meinem Schaffen schon deshalb gut, weil viele deutsche Künstler so amerikanisch wie möglich sein wollten.

Trotzdem haben Sie vorhin den deutschen Bands empfohlen, auf Englisch zu singen.

Zu diesem Widerspruch bekenne ich mich. Normalerweise bin ich immer für Authentizität, aber in dem Fall gibt es eine Ausnahme. Das ist ja das Schöne an solchen Haltungen: Sie müssen elastisch sein. Ich sage: Tod allen Fundamentalisten! Obwohl, wenn man das sagt, ist man selbst einer …

Wie finden Sie eigentlich Rammstein? Auch die werden in den USA als „typisch deutsch“ verehrt.

Dieses Böse-sein-Wollen ist mir bei ihnen manchmal ein wenig zu dick aufgetragen. Das Gift müsste mehr zwischen den Zeilen durchsickern. Ich selbst würde meine Albträume auch niemals eins zu eins auf die Leinwand bringen. Letzte Nacht zum Beispiel habe ich geträumt, ich würde auf einem in Magenta getigerten Hund reiten – wenn ich das malen würde, wäre es die Art von Sonntagsmaler-Surrealismuskitsch, vor dem ich mich besonders hüten muss.

Man merkt Ihnen an, dass Sie keine Zeit mehr mit unnützen Dingen verschwenden wollen. Haben Sie Angst, dass Sie nicht mehr alles schaffen, was Sie vorhaben?

Klar wird das langsam ein Problem. Dieser Fingerschnips zwischen dem 40. Geburtstag, den wir hier gefeiert haben, und dem 50. … Und langsam müssen wir ja schon den Cateringservice für den 60. bestellen. Und diese Beschleunigung steht im unauflösbaren Widerspruch zu meiner Selbstwahrnehmung: Jetzt geht’s erst los! Ich könnte locker davon ausgehen, dass meine entscheidenden Werke erst jenseits der 80 kommen.

Wäre das nicht der richtige Zeitpunkt, um doch noch eine Band zu gründen?

Auf keinen Fall! Vor 20 Jahren hatte ich ein paar Gitarrenstunden, merkte aber schnell, dass meine Finger zu kurz sind. Als dann mein Sohn anfing, bei uns im Keller mit seiner Punkkapelle zu proben, habe ich mir gesagt: Jetzt kaufe ich mir auch eine E-Gitarre! Hin und wieder nehme ich die zur Hand und schrammle darauf herum. Nur Geräusch, die reine Freude an der Klangentfaltung. Und nur, wenn ich hundertprozentig sicher bin, dass keiner zuhört.

Die Story zur Story

Es war eine der ersten Amtshandlungen von Rainer Schmidt, der im Januar 2010 – nach dem Redaktionsumzug nach Berlin – als neuer Chefredakteur antrat: Die Frage an Neo Rauchs Galeristen „Judy“ Lybke, ob der Meister ein ROLLING STONE-Cover malen wolle, wurde erstaunlich schnell bejaht. Im Leipziger Atelier durfte die Berliner Delegation dann sogar zuschauen, wie Rauch die fertigen Bilder unterzeichnete. Das RS-Logo hatte er direkt vom Original durchgepaust – genauer: vom Neil-Young-Titelblatt, Februar 2006.

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