Narziss und Goldkind
Laurence Anyways
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Melvil Poupaud, Suzanne Clément
Regie: Xavier Dolan Start: 27.6.
Bereits mit vier Jahren stand der Frankokanadier Xavier Dolan zum ersten Mal vor der Kamera, mit 17 schrieb er sein erstes Drehbuch, das er mit 19 selbst verfilmte. Die männliche Hauptrolle übernahm er auch gleich noch. Mit jugendlichem Eifer und erstaunlichem Stilwillen zeigte er in „I Killed My Mother“ von 2009 das konfliktgeladene Verhältnis einer alleinerziehenden Mutter zu ihrem pubertierenden homosexuellen Sohn.
Ein Jahr später erschien bereits sein nächster Film. „Heartbreakers“, der im Original den wesentlich passenderen Titel „Les Amours Imaginaire“ trägt, ist eine queere Variante von Truffauts „Jules Et Jim“, bei der Dolan die Rolle eines jungen Mannes übernimmt, der in Konkurrenz zu seiner besten Freundin um einen blondgelockten Buben buhlt.
Wenn man nach einer Analogie sucht, kann man Xavier Dolans Kunst durchaus mit der von Rufus Wainwright vergleichen -beide stammen aus Montreal, beide stellen ihre Homosexualität in den Mittelpunkt ihrer Kunst, und beide scheinen in gewisser Weise frühvollendet. So gesehen wäre „Laurence Anyways“ Dolans Entsprechung zu Wainwrights drittem (in zwei Teilen erschienenem) Album „Want“. Und in der Tat ist der Film mit fast drei Stunden Länge ähnlich umfangreich und ambitioniert, aufdringlich und betörend, grandios und gescheitert. Im Mittelpunkt steht wieder eine unmögliche, unwirkliche, imaginäre Liebe -„Every kind of love/ Or at least my kind of love/Must be an imaginary love to start with“, sang Wainwright ja schon auf seinem Debüt.
„Laurence Anyways“ beginnt im Montreal der Achtziger, der Schriftsteller Laurence Alia (Melvil Poupaud) und Fred Belair (Suzanne Clément) sind seit zwei Jahren ein Paar. An seinem 35. Geburtstag eröffnet er ihr, dass er seit seiner Jugend das Gefühl hat, im falschen Körper geboren worden zu sein. Er habe sich entschlossen, von nun an als Frau zu leben. Nach anfänglichem Schock beschließt Fred, ihm bei diesem Schritt beizustehen. Naturgemäß keine leichte Übung. Während Laurence nach anfänglichen Schwierigkeiten beginnt, sich selbst zu finden, gerät Fred in eine Identitätskrise -Selbstzweifel plagen sie, ihre lesbische Schwester hält sie für verrückt, die Konfrontation mit dem Freund, der nun die Freundin ist, überfordert sie. Schließlich flieht sie, heiratet einen erfolgreichen Mann und bekommt ein Kind. Doch die Liebe zu Laurence scheint stärker zu sein. Das merkt sie, als sie auf dem schicken Sofa zwischen den Errungenschaften ihrer bürgerlichen Existenz sitzt und in seinem/ihrem ersten Gedichtband liest. Eine Zeile lockt sie hinaus, und sie stellt fest, dass Laurence einen Stein des weißen Familienheims rosafarben angemalt hat.
Die Schonungslosigkeit, mit der Dolan zu Beginn von „Laurence Anyways“ in die Psyche seiner beiden Protagonisten leuchtet, erinnert stellenweise an die besten Filme von Rainer Werner Fassbinder. Poupaud und vor allem Clément spielen das mit großer Intensität und Wahrhaftigkeit. Doch als Laurences Verwandlung vollzogen ist, scheint auch der Plot an sein Ende gekommen zu sein, und der Film verliert seinen Rhythmus.
Die letzte Stunde wirkt auf den ersten Blick wie eine Aneinanderreihung von Szenen, von denen Dolan, der erstmals auch den Schnitt übernahm und die Kostüme entwarf, sich aufgrund ihrer ästhetischen Qualitäten einfach nicht trennen konnte. Manche Sequenz erinnert -unterlegt von Visage-,Duran-Duranund The-Cure-Songs -an stilisierte Popvideos aus den Achtzigern, auch die Camp-Ästhetik eines John Waters scheint durch und die fellinieske Groteske. Nan Goldin, Henri Matisse und Gustav Klimt seien ebenfalls wichtige Bezugspunkte gewesen, sagt der Regisseur.
Vielleicht liegt in dieser Wendung der Narzissmus des Regie-Wunderkindes, aber reizvoller ist sicher die Deutung, der Filme folge der Metamorphose des Protagonisten, indem er ebenfalls seine Gestalt ändert. Aus dem eindringlichen Queer-Drama wird eine Feier des Ästhetizismus – genau so könnte man übrigens auch die Differenz zwischen Rufus Wainwrights „Want One“ mit dem Brief an den Vater „Dinner At Eight“ und dem vom „Gay Messiah“ kündenden „Want Two“ beschreiben. Dolan selbst hat für „Laurence Anyways“ allerdings schon eine ganz andere Referenz ins Spiel gebracht: James Camerons „Titanic“.