Nackt unter Leuten: Thomas Vinterberg zeigt „Kolektivet“ bei der Berlinale 2016
Dogma-Mitbegründer Thomas Vinterberg hat mit »Kolektivet« die Erinnerungen an seine Kindheit in der Kommune verfilmt.
Castings sind heutzutage ein gängiges Mittel der Selbstvermarktung, das jeder in Kauf nehmen muss, will er auf seinem Weg ins Egoistan vorankommen. Man hat sich daran gewöhnt. In den siebziger Jahren war das aber schon ein wenig anders, da herrschte der Gedanke an Freiheit und Gemeinschaft. Das Abfragen nach Passgenauigkeit war eher ungewöhnlich. Umso verdutzter schaut der bärtige Allon (Fares Fares) in die Runde, als in Eriks (Ulrich Thomson) und Annas (Trine Dyrholm) Wohngemeinschaft die Frage aufkommt, wer er eigentlich sei und wohin er im Leben wolle. Er wisse es nicht, stottert er, ebenso wenig, wohin es ihn im Leben verschlage. Wie er denn dann die Miete zahlen wolle, wird er gefragt, woraufhin er weinend zusammenbricht.
Die Frage nach den Finanzen ist sofort vom Tisch, schließlich soll hier etwas Visionäres entstehen. Allon wird in das Haus einziehen und Teil der Kommune, die Thomas Vinterbergs Wettbewerbsbeitrag den Namen gibt. Zur basisdemokratischen Wohn- und Lebensgemeinschaft von Erik, Anne und ihrer selbstbewussten Tochter Freja (Martha Sofie Wallstrøm Hansen) gehören neben Allon außerdem die herrische Ditte (Anne Gry Henningsen) und der schüchterne Steffen (Magnus Millang) mit ihrem herzkranken Sohn sowie der chaotische Lebenskünstler Ole (Lars Ranthe) und die lebenslustige Mona (Juliette Agnete Vang).Eine seltsame WG ist das schon, stellt der dänische Regisseur Thomas Vinterberg (Das Fest, It’s all about Love, Submarine, Die Jagd) vier überaus starken Frauenfiguren doch vier recht blasse Männer an die Seite. Dennoch geht es zunächst überaus lustig zu. Man kauft gemeinsam ein, sitzt abends in großer Runde am Tisch, isst, trinkt und lacht. Ab und an entzündet man im Garten ein Feuer oder springt nackt in die Ostsee. Der alternative Traum des Zusammenlebens scheint hier wahr zu werden. Doch mit jeder langatmigen Diskussion verabschiedet sich Erik ein wenig mehr aus der Gruppe, das von Anne erhoffte Aufblühen der Ehe verkehrt sich ins Gegenteil. Ihr Mann beginnt eine Affäre mit seiner Studentin Emma (Helene Reingaard Neumann). Erst trifft er sich mit ihr heimlich, dann offen, bis er beschließt, seine Geliebte mit in das Haus einziehen zu lassen. Die Diskussion am großen Tisch eskaliert, obwohl Anne ihr Einverständnis erklärt, woraufhin Erik zur Erpressung greift. Er droht lautstark mit der Auflösung der Gemeinschaft, wenn sie seinem Anliegen nicht zustimmen.
Der auf einem Theaterstück basierende Film sei, so erklärte der dänische Regisseur am Mittwoch in Berlin, eine Liebeserklärung an seine Kindheit, gemeinsam mit seinen Eltern hatte er seit seinem siebten Lebensjahr in einer Kommune gelebt. Auch wenn er seit seinem Auszug mit 19 nicht mehr in einer Kommune gelebt habe, so schätze er doch die Erfahrungen, die er dort gemacht habe. So fehle ihm etwa der Gedanke der Selbstlosigkeit und des Teilens, der den Mehrwert von Freundschaft und Geborgenheit schaffen könne, ergänzte Vinterberg.
Zweifellos hat er damit Recht, die Ich-Gesellschaft der Moderne hat das Wir verloren. Das Problem ist nur, dass dieses Wir und dessen Mehrwert in seinem Film selbst viel zu kurz kommen, um diesen als Hommage dafür zu zitieren. Denn war Vinterbergs Film bis zu Eriks Wutausbruch noch eine Hommage an das alternative Wohnen, kippt er ab diesem Moment in ein gewöhnliches Ehedrama. Denn mit der autoritären Auflösung der demokratischen Abstimmung macht er dem Wesen des alternativen Modells ein Ende. Zwar wird die Gemeinschaft pro forma bestehen bleiben, den Beziehungskisten zwischen Anne, Erik, Freja und Emma schauen die Außenstehenden aber nur noch teilnahmslos mit hündischen Blicken zu.
Ohnehin fragt man sich, warum nach der Auflösung des herkömmlichen Wohnmodells nicht längst auch eine zumindest partielle Trennung von den gewöhnlichen Lebensmodellen erfolgt ist. Nicht einmal der Ansatz einer offenen Beziehung ist in dieser Lebensgemeinschaft diskutabel. Als die unter der körperlichen Abwesenheit ihres frisch verliebten Mannes leidende Anne ihren Wunsch auf gelegentliche sexuelle Begegnung ausspricht, sieht sie nur in ungläubige und schockierte Gesichter.
Wenn man diesen Film aber nicht als Sozialexperiment mit Erkenntnisinteresse, sondern als eine Geschichte des Lebens und seiner Wege sieht, wird man reichlich belohnt. Von dem genialen Soundtrack aus der Feder des Niederländers Fons Merkies. Von den wunderschönen, zum Teil überwältigenden Vintagebildern, mit denen Kameramann Jesper Tøffner die Szenerie der Siebziger eingefangen hat. Und vor allem von Tryne Dyrholms Schauspiel. Die Dänin füllt ihre Rolle der offenen, aber empfindsamen und verletzbaren Frau in grandioser Manier aus. Statt auf die große Geste konzentriert sie sich auf das Minenspiel, so dass man noch die kleinste emotionale Regung in ihrem Gesicht ablesen kann. Das ist insbesondere im zweiten Teil des Films von Bedeutung, in dem sie als die verlassene, aber immer noch liebende Frau unter der selbst auferlegten Toleranz und Freigiebigkeit kaputtzugehen scheint. Sie ist im Film letztendlich die einzige, die sich auch im übertragenen Sinne nackig macht und ein Blick in ihre Seele zulässt.
So glaubwürdig wie Dyrholm ihre starke, aber eben nicht unzerbrechliche Figur spielt, so unglaubwürdig ist das Ende der Kommune in einer Art Supergau. All die Katastrophen, die am Horizont als Möglichkeit im Laufe des Films aufzogen, brechen über diese Gemeinschaft herein. Das hätte es nicht gebraucht, um zu begreifen, dass auch in alternativen Konstellationen das Leben seinen Lauf nimmt.
Trotz dieser Kritik und dem Umstand, dass das Kommunardenleben am Ende eine viel marginalere Rolle spielt, als es der Titel entspricht, ist Vinterbergs Kollektivet, entstanden in Lars von Triers Produktionsforma Zentropa, einer der besten Filme im Wettbewerb, der getragen wird von einer überragenden Tryne Dyrholm und eine Visualität, die ihrem Sujet und seiner Zeit mehr als gerecht wird.