Nach Tod von Charlie Watts: Wie wird die Zukunft der Rolling Stones aussehen?
The Show will go on: Die „Tattoo You“-Jubiläumsbox erscheint, und im nächsten Jahr vielleicht ein neues Studioalbum – mit Aufnahmen von Charlie Watts
Der Schock sass tief, der Schmerz betäubte, die Trauer währte. Wer aber Tage nach Charlie Watts’ Ableben auf der Suche nach Trost die Webseiten von Fanclubs wie „It’s Only Rock’n’Roll“ aufsuchte, Orte der Idolatrie und des Respekts, wurde mit erbitterten Disputen über die nahe wie fernere Zukunft der Stones konfrontiert, die sich bereits seit dem 24. August in zahllosen Posts um die Frage aller Fragen drehten: Quo vadis, Lieblingsband?
„No Charlie, no Stones!“, darin schien man sich zunächst einig. Hatten nicht Mick und Keith dieses Diktum über die Jahre immer wieder in den Mund genommen? Konsequent zu Ende gedacht müsste es das Ende der Band bedeuten, gleich jetzt, noch vor der anstehenden Tour. Dies sei die einzige honorige Lösung, befanden Die-hard-Fans und schworen, nie wieder einer Stones-Show beizuwohnen. Das unzeremonielle business as usual von The Who nach John Entwistles Hinscheiden war noch in übler Erinnerung. Also war die kollektive Replik ein emphatisches „Yes!“ auf die Frage des Threads: „Is it time for the Stones to stop rolling?“
Doch bald schon regten sich Stimmen der Vernunft. Die Forderung nach sofortiger Selbstauflösung der Band sei anmaßend, und dass die Stones ohne ihren angestammten Drummer auf Tour gingen, könne schwerlich Verrat sein, denn: War es nicht Charlie Watts selbst, der es so wollte und mit Steve Jordan sogar seinen Ersatzmann bestimmte für die Zeit der erhofften Rekonvaleszenz? Wie damals, vor 30 Jahren, als Bill Wyman ausstieg und Charlie sich für Darryl Jones aussprach als Nachfolger am Bass. Im Übrigen stünden im nächsten Jahr die Feiern zum 60-jährigen Bestehen der glorreichen Institution an, eine wunderbare Gelegenheit, auch noch mal Charlies zu gedenken.
Mick Jagger und Keith Richards hatten ihren Freund gleich nach Bekanntwerden der schrecklichen Nachricht ohne Worte gewürdigt, pietätvoll, nur mit einem Foto auf ihren jeweiligen Facebook-Seiten. Mick zeigte ein Bild von sich selbst mit Charlie aus besseren Tagen, harmonisch einander zugetan. Auf Keiths Foto ist ein Drumkit zu sehen mit einem Schild: Closed. Vielen IORR-Usern war das nicht annähernd genug, sie erwarteten verbale Botschaften, mindestens anrührend, besser erschütternd. Alles zu seiner Zeit, wurde widersprochen, gerade die anstehende Tour könnte doch eine Bühne sein für Farewell-Zeremonien würdigster Art. Gut, aber bloß keinen Bombast, lieber schlicht, meinten die einen, andere wünschten sich eine der Zäsur angemessene Ehrung, eine Laudatio, eine feierliche Eloge wie seinerzeit im Hyde Park vor einer halben Million Fans, als Mick Jagger ein Gedicht von Shelley vortrug, zu Ehren des verblichenen Brian Jones.
Es herrschte kein Mangel an Vorschlägen betreffs möglicher Modalitäten der Huldigung, und es wurde gern an die Ovationen erinnert, die besonders Charlie Watts in den Stadien entgegengebracht wurden. Ein Perspektivwechsel, der manchen Befürworter eines endgültigen Schlussstrichs unter das ruhmreiche Unternehmen namens The Rolling Stones wankend werden ließ. Er werde nun doch eine der Shows mitnehmen und der Watts-losen Band eine Chance geben, schrieb einer und erntete prompt stürmische Zustimmung, sowohl von Team Mick als auch von Team Keith, sonst oft und gern miteinander in Grabenkämpfe verstrickt. Nur die Steinzeitsektierer von Team Brian hielten die Kontroverse für lachhaft, weil ihrem Katechismus zufolge die Band das Recht auf den hehren Namen bereits seit 1969 verwirkt habe.
Unter welchem Moniker dürfte eine Band noch auftreten ohne einen der beiden Haupträdelsführer?
Auf reine Spekulation war man angewiesen bei dem Versuch, ein tragfähiges Modell für die Zukunft der Stones zu entwerfen. Des Drummers unerwarteter, plötzlicher Tod verschob die Zeitkoordinaten, denn auch Micks Metabolismus war seit einer Herzoperation trotz seines disziplinierten Fitnessregimes nicht mehr unbegrenzt belastbar, nur Keith sei zuzutrauen, sich dereinst wie prophezeit im Sarg von der Bühne tragen zu lassen. Aber unter welchem Moniker dürfte eine Band noch auftreten ohne einen der beiden Haupträdelsführer? Selbst die Stones, mehr Naturgewalt als Gruppe, mehr Kontinuum als Etappe, waren endlich. Schon in absehbarer Zeit würden als ewige Konstanten nur noch Sonne, Mond und Sterne gelten.
Umso dringender klangen die Appelle an noch unentschiedene Stones-Bewunderer, sich trotz der Absenz des großen Rhythmuswächters nicht um die vielleicht letzte Chance zu betrügen, die Band noch mal live zu erleben. Nie haben die Rolling Stones versucht, den Ticketverkauf mit der Ankündigung oder auch nur Andeutung anzukurbeln, die nächste Tournee könnte ihre letzte sein. Hatten sie auch nicht nötig. Nun aber schien es ernst zu werden, das Signal zum Aufhören geben nicht mehr sie selbst, zumindest nicht freiwillig. Er sei nicht unersetzlich, hatte Watts immer wieder betont, und natürlich hätte er sich gewünscht, dass die Band über seinen Tod hinaus weitermacht, immer weiter. Um Geld ging es dabei schon lange nicht mehr, allein bei den insgesamt ziemlich genau 2000 Shows seit 1962 vor weit mehr als vier Millionen Konzertgängern wurden Milliarden an Umsätzen erzielt.
An den bevorstehenden Gigs hängen Hunderte Jobs, und Hunderttausende Ticketbesitzer bauen auf das Prinzip Hoffnung nach all den Ausfällen aufgrund der Pandemie. Und immerhin ist deren Ende nach wie vor nicht absehbar, sie könnte weitere unliebsame Absagen bewirken. Ach ja, und dann wäre da noch das neue Album, an dem die Stones seit etlichen Jahren periodisch arbeiteten, mit Charlie Watts, und das im nächsten Jahr, dem 60. ihrer Annalen, endlich erscheinen könnte. Bis dahin gilt erst mal: The show will go on.