Nach dem Sylt-Video: So geht die Strategie der Rechtsextremisten auf
Das Nazi-Gegröle auf Sylt ist kein Dummer-Jungen-Streich, sie müssen nun die Konsequenzen tragen
Auch dieser Text beginnt, wie alle Texte zu diesem Thema in den vergangen Tagen, natürlich mit einer absoluten Selbstverständlichkeit: Ja, es ist entsetzlich, wenn in Deutschland junge Erwachsene zu einer italienischen Disco-Polka die Parolen der NPD, also der Neo-Nazis, skandieren und dabei Hitlergruß zeigen und Schnurrbärtchen andeuten.
Nur: Hier folgt kein Aber.
Dass die Grölemädels und -Jungs nun die Konsequenzen ihres dumpfen Gesangs auf Sylt tragen müssen, ist richtig. Es ist vollkommen unerheblich, ob sie sich nur einen Spaß erlauben wollten oder ob sie betrunken waren. Es ist total egal, ob das auch andere irgendwo schonmal gemacht haben, es ist bei der Betrachtung des Falles wurscht, ob sie medial anders behandelt werden als Joe Boateng, der Initiator der islamistischen Demonstrationen, auf denen ein „Kalifat“ gefordert wurde.
Was übrigens auch nicht stimmt – der Schnösel-Islamist wurde in den Medien genauso behandelt, wie seine Sylter Komplementäre. Er verlor – vollkommen zurecht – seine Perspektive, Lehrer zu werden, sein Studium kann er knicken.
Gut so!
Die Vorsängerin der Sylter Gang hat Hausverbot an ihrer Universität, ihr droht der Rauswurf. Der Kurzhosen-Hitler hat seinen Job bei einer Werbefirma verloren. Obwohl er strafrechtlich vielleicht nicht belangt werden kann, obwohl wahrscheinlich ein findiger Anwalt seinen Hitlergruß als rhythmisches Gezappel und die Bartfinger als Abwischen von Bierschaum erklären und ein Gericht ihm folgen wird.
Der einzige Fehler der Zeitungen war, diese Erwachsenen als „VIPs“ und „Promis“ zu bezeichnen
Nun geht es hier aber gar nicht um Strafrechtliches. Wäre der Hitlergrußgröler Zerspanungsmechaniker und würde die meisten Zeit in einer dunklen Werkshalle wirken, wäre er unter Umständen nach Entschuldigung und Reue bei seinem Arbeitgeber damit durchgekommen. Wer aber im Kundenkontakt steht, wessen Job es ist, Images von Firmen zu verbessern, der kann das nicht mehr tun, nach dem, was er auf Sylt getan hat. Genauso zwangsläufig ist, dass seine Mitsängerin von ihrer Chefin, einer Influencerin mit Migrationshintergrund, gefeuert wurde. Man kann schon anderer Meinung sein als die Vorgesetzte, aber hier kennt es ja nicht um Meinung, sondern um rechtsextremistische Hetze.
Aber wie erfuhren die Arbeitgeber überhaupt von dem Vorfall auf Sylt? Die gängige Meinung ist: durch die Medien. Das ist aber falsch. Die identifizierbare Berichterstattung setzte erst ein, als das berufliche Umfeld längst informiert war und gehandelt hatte. Der einzige Fehler der Zeitungen war, diese Erwachsenen als „VIPs“ und „Promis“ zu bezeichnen, beides sind sie nicht. Für den Ort ihrer – nach meinen Wertvorstellungen – nicht entschuldbaren Entgleisung wählten sie die Außenterrasse an einer Flaniermeile von Sylt. Sie filmten sich bei ihrem Gesang und ihren Gesten, sie teilten diese Filme, sie stellten sie ins Internet.
Die Sylter Sänger wurden nicht in die Öffentlichkeit gezerrt. Sie selbst haben die Öffentlichkeit gesucht.
Seit Tagen werde nur noch über diesen Fall berichtet, wird behauptet. Das ist falsch. Es wird vor allem über die Diskussion über den Fall berichtet, gestritten und diskutiert. Es wird behauptet, die Politiker würden dem Dumme-Jungen-Streich von Sylt mehr Aufmerksamkeit widmen als, beispielsweise, den islamistischen Boateng-Demos, auf denen Judenhass zelebriert und ein Kalifat gefordert wurde. Das ist ebenfalls falsch. Auch über diese Demonstrationen und ihre Rädelsführer – siehe oben – wurde breit berichtet. Das politische Personal hat sich zu dem Einen wie dem Anderen geäußert, es wird im Einen wie im Anderen ermittelt und diskutiert, was die Vorfälle über unsere Gesellschaft sagen.
Es herrscht seit geraumer Zeit eine befremdliche Ansicht, dass es offenbar immer nur ein Problem gibt, das abzuarbeiten sei. Der Whataboutismus, also das taktische Stellen einer Gegenfrage, einer Gegenposition, ist Struktur geworden. Wenn also Unis von Israelhassern besetzt werden (auch das übrigens breit kritisiert und von Berlins Bürgermeister Kai Wegner kompromisslos beendet), hat sich alles andere darunter einzuordnen und für kein anderes Problemfeld ist mehr Raum und Zeit. Auch nicht für den Trend, in Deutschland landauf, landab Neonazi-Parolen zu skandieren.
Denn: Sylt ist kein Einzelfall, er wurde nur durch die Hemmungslosigkeit der Pullover-über-der-Schulter-Clique und die grelle Nordseesonne besonders erhellt. Das Absingen der Parolen zum Quietschehit „L’amour toujours“ gibt es seit ungefähr einem Jahr, vor allem in den testosterongeschwängerten Schummerfestzelten und Dorfdiscoschuppen. Immer mehr Videos tauchen auf.
Das macht es nicht besser. Sondern schlimmer.
Man mag darüber den Mehltau von Verständnis legen wollen. Alle besoffen, alle jung, alle wollen ein bisschen rebellieren, washabenwirfrühernichtallesangestellt? Oder ganz verwegen: Das ist der Aufstand der Jugend gegen Masseneinwanderung und importierten Israelhass. Also im Klartext: Die Neonazis haben Recht. Ausländer raus ist eine Lösung. Deutschland den Deutschen.
Echt jetzt?
Die einzige Relativierung, die in der Causa Rechtsaußen-Popper erlaubt ist, ist die zu einem Video, das nun aufgetaucht ist und das einen polizeidokumentierten Vorfall zeigt. Aufgenommen ist es aus einem Fahrzeug, das mehrmals um eine Art Verkehrsinsel kreist, auf der ein Dutzend dunkelhäutige Menschen sitzen. Die Menschen im Wagen grölen den NPD-Spruch zu dem Popsong. Das ist dann der Schritt, der nach dem Singen kommt. Was folgt, ist ebenfalls klar.
Musik ist seit jeher eine bewährte Waffe der Extremisten
Jenseits der Diskussionen, die wir hier in der Zivilisation führen, lohnt sich ein Blick in den Sumpf. Dort jubeln die schlauen und gedungenen Influencer der Neuen Rechten, die ihren Ausländerhass ja gern mit Israel-Solidarität tarnen, über den „Sommerhit des Jahres“. Da ist nicht von Ausrutschern die Rede, dort hat der entfremdete Song eine große taktische Bedeutung. Der Rechtsextremist Martin Sellner unterlegte ein Video mit der Melodie, ebenfalls die in weiten Teilen gesichert extremistische und in der Realpolitik auf Witzniveau geschrumpfte AfD. Musik ist seit jeher eine bewährte Waffe der Extremisten.
Der Song ist ein Ohrwurm, das ist das Kalkül und es geht ja auf. Mir geht es auch so: Höre ich den Song, ergänze ich die kranken Worte. Im Kopf! Je öfter man sie hört, so ist es ja immer, so stumpfer wird man, so normaler werden sie. Bis sie irgendwann nicht mehr die Parolen von Neo-Nazis, sondern ein Liedtext sind. Der des „Sommerhits 2024“. Die Strategie ist – leider – perfekt.
Moment: Kann es nicht sein, dass dies genauso den Sylter Aperolgespritzen ging? Dass sie einfach nur ein bisschen doof sind? Und nicht nachgedacht haben? Gut möglich. Hier kommt nun mein Aber: Ändert das irgendetwas? Nein. Der Mensch wird nach seinen Taten beurteilt, nicht nach seinen Gedanken. Vor Gericht und auch im Leben. Auch, wenn die Worte omnipräsent sind, müssen es uns gelingen, diese Büchse der Pandora wieder zu verschließen.
Für die rechten Strategen geht die Rechnung nämlich auf vielerlei Art auf. Geteilt wurde das Video aus Nagold vor allem von Tarek Bae, einem Israel-Hasser und antisemitischen Propagandisten. Rechte und islamistische Giftbrüder im Geiste profitieren so gleichermaßen von der Eskalation. Kein Aber. Keine Pointe.