Na, auch schon X verlassen?
Die lautstarke Ankündigung, nun Ex-Twitter zu verlassen, mag moralisch geboten sein. Es ist aber auch wohlfeil.

Seit Elon Musk Twitter übernommen und in X umbenannt hat, ist etwas faul im Staate Dänemark. So lautet die Kritik an dem jüngsten Fang des milliardenschweren Unternehmers, der schon beim Kauf des Kurznachrichtendienstes ankündigte, dass er für mehr Meinungsfreiheit sorgen wolle. Zensur soll der Vergangenheit angehören. Sagt Musk.
Seine Kritiker übersetzten das als Versuch, populistische Meinungen und damit auch Hass und Hetze wieder salonfähig zu machen. Spätestens seit Musks lautstarker Unterstützung für Donald Trump im US-Wahlkampf sehen sich viele in ihrer Meinung bestätigt. Prominente und Unternehmen kündigen öffentlich an, ab sofort nicht mehr bei X sein zu wollen.
Das ist ihr gutes Recht, denn niemand wird gezwungen, einem Sozialnetzwerk im Internet anzugehören. Es stimmt auch, dass der Ton auf X rauer und der Konsens geringer geworden ist. Aber es ist nicht richtig, dass Twitter einst ein Ort der von Zornesröte und Stumpfsinn befreiten Diskurskultur war. Auch vor Musk ging es dort bereits um die Macht, das vermeintlich Richtige im richtigen Moment zu sagen. Wer zu etwas eine Meinung hatte, posaunte sie sofort heraus.
X/Twitter hat Shitstorms zur gängigen Methode gemacht
Der Internetdienst wurde so zu einer Top-Speed-Nachrichtenquelle, er half in politischen und manchmal auch in privaten Notlagen. Die MeToo-Bewegung hätte es vielleicht nie gegeben. Aber über Twitter formierte sich auch die Shitstorm-Kultur, die heute nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Sobald etwas als Empörungsfeld wahrgenommen wird, rauschen emotionale Hashtag-Botschaften durch das Netz.
Mag X nun auch einen anderen Meinungskorridor haben, der weiter nach rechts gerückt ist, das Problem ist ein anderes. Die narzisstische Geltungssucht bei der Vermeldung von Informationen der erste sein zu wollen, ist ein Ärgernis. Jedes Gefühl und jeden Gedanken ungefiltert in einen Tweet zu stopfen, am besten noch mit ironischem Witz garniert (um weniger angreifbar zu sein), ist sogar eine Belastung.
Wenn jetzt also viele Menschen X verlassen – und meinen, dass dies unbedingt jeder mitbekommen müsse -, dann geht es dabei nur um einen sozialen Distinktionsgewinn ohne großen Nutzen für eine Verbesserung der Sprach- und Gemeinschaftskultur. Woanders herrschen die selben Probleme (bald wohl deutlicher auf Facebook), niemand scheint sich um eine Verbesserung bemühen zu wollen. Und je weniger politische oder gesellschaftliche Diskussion in Wort und Bild, desto mehr wird um die verführbaren Köpfe vor allem junger Menschen gerungen (siehe TikTok).
Man fühlt sich zwar mit dem Social-Media-Xit (sic!) auf der richtigen Seite. Aber entweder sind da noch ein paar andere Dienste, denen man weiter die Treue halten will, oder es wird nach Alternativen gesucht. Dann gleich bei allen abmelden, am besten ohne das laut mitzuteilen.