Mutters zweiter Frühling
Erinnern Sie sich an „Chavez Räume“? 2005 gedachte Ry Cooder mit diesem Album eines in den 40er Jahren untergegangenen Stadtteils von Los Angeles, in dem vor allem Menschen mexikanisch-amerikanischer Herkunft lebten – arm, aber glücklich, wie Cooder konstatierte. Er verfasste eine musikalisch-lyrische Streitschrift wider Kapitalismus, Fortschrittssucht und die Disneyisierung der USA. Cooder hatte sich damals eine Reihe von Zeitzeugen gesucht, jedenfalls Sänger, die den betreffenden Stil gut singen konnten. Darunter war Ersi Arvizu, die in den Sechzigern mit zwei ihrer Schwestern als The Sisters musikalischen Erfolg hatte und es Anfang der Siebziger dann mit der Band El Chicano und einem East-L.A.-Sound aus Latin Jazz, Rock und R6?B zu regionaler Berühmtheit brachte.
Schon während der Auf nahmen zu „Chavez Ravine“ hatte Cooder offenbar die Idee, Arvizu zu einer zweiten Karriere zu verhelfen. Jedenfalls organisierte er einen Deal mit Epitaph/Anti, schickte Arvizu mit einem Schreiber ihrer Wahl in Klausur und produzierte die dabei entstandenen Songs zu einer Platte namens „Friends For Life“. Arvizu nimmt den zweiten Frühling, wie er kommt.
hat zu den europäischen Pressegesprächen (und zum Shopping in Paris) die Schwester mitgenommen und findet insgesamt, dass die neue Aufmerksamkeit ihr durchaus recht geschieht. Ry Cooder kannte sie am Anfang nicht mal dem Namen nach und betont im Gespräch, dass sie sich von dem legendären Ruf des Mentors nicht übermäßig beeindrucken lasse. Und doch spricht sie viel von Cooder, ohne den freilich kaum jemand großes Interesse an dieser Platte haben würde.
„Ry gräbt Leute aus, die seiner Meinung nach übersehen wurden“, sagt Arvizu. „Er denkt wohl, dass auch ich übersehen wurde, obwohl ich ja damals sehr bekannt war. Das Album klingt ja gar nicht wirklich so wie wir damals, aber meine Stimme ist natürlich dieselbe – sie hat nun mal etwas Einzigartiges, und das braucht man man heutzutage im Musikgeschäft mehr denn je. Sie scheint ihn an irgend etwas zu erinnern—jedenfalls hat er gesagt, ich solle einfach Geschichten von früher aufschreiben. Und Geschichten habe ich viele.“
Man wundert sich ein bisschen, dass Cooder Arvizu nicht beim Komponieren unterstützt, sondern sich aufs Produzieren und Gitarrespielen beschränkt hat – vielleicht ging es ihm um das unverfälschte Antlitz, wie einem Ethnologen, der ein Urvolk beobachtet, aber auf keinen Fall eingreift. Tatsächlich hat „Friends For Life“ etwas Historizistisches und erweitert das Coodersche Stilmuseum um eine weitere Nuance. Arvizu singt ihre persönliche Biografie und erzählt Geschichten aus der ersten Karriere, aber auch aus ihrer Kindheit und dem späteren Leben als Boxtrainerin.
Jawohl, Boxtrainerin: Arvizu hat dem Vater früher in dessen Box-Schule viel abgeguckt. Nachdem sie bei El Chicano ausgestiegen und nach Arizona umgezogen war, wurde aus der frühen Prägung ein eigener Job. „Die Drogen und der seltsame Lebenswandel, das war nicht mein Ding. Und außerdem war ich gut im Boxen – die anderen konnten vielleicht hart zuschlagen, aber ich kannte die Kombinationen.“
In Zukunft wird nicht mehr geschlagen, sondern gesungen. Einige Konzerte stehen auf dem Plan, bei denen sogar Ry Cooder mitspielen will. „Alle sind ganz überrascht, dass Ry bei mir spielen will. Dabei habe ich ihn gar nicht gefragt, sondern er mich! Ich habe ihm gesagt, dass er die gleiche Gage bekommt wie die anderen.“