Mutters Liebling
Vor zehn Jahren erschien in den USA Peter Guralnicks Fleißarbeit „Careless Love – The Unmaking Of Elvis Presley„, der zweite Teil seiner Monumentalbiografie, dem Standardwerk über den King. Nun endlich ist der Wälzer von mehr als 900 Seiten in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden, mit dem etwas pathetischen Untertitel „Sein Niedergang 1958 -1977“ (Bosworth Edition). Es war ein sehr langer Abgesang, angefangen bei Elvis‘ Militärzeit in Deutschland, wo sich Vater Vernon, Grandma und die Jungs behaglich eingerichtet hatten und der Rekrut reichlich Damenbekanntschaften machte, darunter die 14-jährige Priscilla Beaulieu, und munter Amphetamine schluckte, um nachts aktiv sein zu können. Nebenher steuerte er vorbildlich einen Jeep, wurde aber dennoch erst spät um eine Stufe befördert. Und nach den fröhlichen Tagen von Bad Nauheim kam die Chose erst richtig in Schwung.
Guralnicks Detailversessenheit schafft das ebenso erschütternde wie hysterisch erheiternde Porträt des Künstlers als paranoidem Mann, eines wissbegierigen, zugleich trägen und abenteuerlustigen Straßenjungen, der von Mutter gute Manieren gelernt hat und sich aufführt wie ein Tyrann, wenn er gerade nicht jedermanns bester Freund ist; eines Feiglings, der sich hinter den Anweisungen des Colonel Parker versteckt und gern Mittelsmänner vorschickt, der Konflikte vermeiden will, aber zu Tobsuchtsanfällen neigt und pathologisch eifersüchtig ist-, der den Tod der Mutter nie verwindet und eine Kindfrau erst idolisiert, dann heiratet und am Gängelband führt; der immerzu Sex hat, aber nicht unbedingt Geschlechtsverkehr; der nicht treu sein kann und doch jeder Frau das Gefühl vermittelt, sie sei die einzig Begehrte; der unbesorgt Medikamente, Aufputsch- und Schlafmittel konsumiert und apathisch vor dem Fernseher sitzt, umgeben von der Memphis-Mafia, deren Streitereien er oft absichtlich schürt; der zu seinem Vater ein distanziertes Verhältnis hat, während er seinen Manager als väterliche Autorität bewundert, weshalb er keinen Vertrag und kein Engagement in Zweifel zieht; der die Filme, in denen er auftreten muss, hasst und dennoch die Verpflichtungen einhält; der sich leidenschaftlich in die Interpretation bestimmter Songs vertieft, andererseits oft tagelang nicht zu den Aufnahmen erscheint.
In der Erinnerung erleben Joe Esposito, Larry Geller, Jerry Schilling, sogar Priscilla immer wieder einen anderen Elvis, stets geben sie zu Protokoll, wie sehr er sich innerhalb weniger Monate verändert habe. Natürlich waren es die Drogen. Natürlich war es die Verschwendungssucht. Natürlich war es die Isolation. Natürlich war es der schwindende Erfolg. Aber zu keinem Zeitpunkt in seinem Leben begehrte Elvis Presley auf. Seine Begeisterung für Autorennen und Pferde, Motorräder und esoterische Lektüre währte jeweils kein Jahr, er war ein privatgelehrter Experte für Football und für Krankheiten, und seine Kenntnisse der Blues- und Gospelmusik reichten bis in die 40er Jahre zurück – er konnte sich an jedes Stück erinnern, das ihm einmal gefallen hatte, und er konnte sich auch fast jedes Stück anverwandeln. Doch wurden auf Geheiß des geldgierigen Colonel, der einst Hundefänger gewesen war, nur solche Stücke aufgenommen, für die auch die Publishing-Rechte zu erwerben waren – weshalb etwa nie Elvis‘ Version von Dylans „Tomorrow Is A Long Time“ zu hören war. Auch die Fassung von Jimmy Reeds „Guitar Man“ hätte es beinahe nicht gegeben, weil der Songschreiber und Gitarrist die Rechte nicht verkaufen wollte – obwohl er selbst bei den Sessions mitspielte.
Elvis‘ Filmkarriere dümpelte dahin, lustlos wurden in jedem Jahr zwei Soundtracks zusammengeramscht, RCA verlängerte stets den Vertrag (bis 1980!), obwohl die Singles stetig schlechter verkauften und für Alben gar keine Zeit blieb. 1968 wäre mit dem Fernseh-Special beinahe die Wende gelungen, doch dann ging es weiter im alten Trott. Zumindest in der Rückschau behaupten alle Begleiter aus der Entourage, Elvis hätte sich schon als 24-Jähriger nichts sagen lassen: Wer widersprach, der fiel in Ungnade. Die meisten Aufsässigen kehrten nach Monaten reumütig zurück, fast niemanden gelang der Wechsel in ein bürgerliches Leben.
Guralnicks Buch ist ein Schauer-Roman wie „Dorian Gray“, es ist Slapstick, pädagogische und philosophische Lektüre, Tragödie und Schelmenstück, Farce und Kriminalliteratur. Selbst Hamlet ist keine bizarrere Figur als Elvis Aaron Presley, der an Mutter und Gott glaubte und nach dem Sinn der Existenz suchte wie nur je ein Mensch. Lesen Sie, lachen Sie, weinen Sie!