Noémi Büchi erklärt ihr neues Electro-Projekt Musique Infinie
Die Schweizerin über ihre Arbeit mit Feldermelder und Beats, die um Dekadenz und Schönheit kreisen.
Zwischen den Begriffen Verstörung und Überwältigung liegt meist nur ein schmaler Grat. Es kommt darauf an, ob man ihre Wirkung als positiv oder negativ liest. Das erste gemeinsame Projekt der Schweizer Electro-Avantgardisten Noémi Büchi und Manuel Oberholzer alias Feldermelder bezieht seine Energie aus diesem produktiven Widerspruch.
Zu hören sind hypnotische Clusterkompositionen, die Filmmusik, Soundskulpturen, Klassik- und Jazz-Tupfer zu einer Symphonie der sich aneinander reibenden Klangtexturen vereinen. Im Grunde simple Strukturen werden motorisiert und mittels Repetition ins unendlich Komplexe hochgefahren. Dass dies eine geradezu unheimliche Euphorie erzeugt, macht diese Musik so geheimnisvoll. Noémi Büchi erzählt im Interview mit ROLLING STONE, wie die erste Platte „I“ ihres Projekts entstand.
Du hast vor nicht allzu langer Zeit nach einigen EPs dein Solo-Debüt veröffentlicht. Nun gibt es von dr Musik, die du gemeinsam mit Feldermelder aufgenommen hast. Wie kam es zu der Zusammenarbeit und handelt es sich dabei um ein einmaliges Projekt?
Manuel (aka Feldermelder) und ich sind Lebenspartner. Seit wir uns kennengelernt haben, ist die Neugierde und die Lust, zusammen etwas zu kreieren, sehr gross. Eigentlich war die Idee schon im Raum, bevor wir uns überhaupt persönlich kennengelernt haben, da wir uns rein musikalisch schon sehr lange füreinander interessierten. Das Projekt Musique Infinie trägt seinen Namen sehr gut und ist somit hoffentlich auf längere Zeit angesetzt. Vielleicht unendlich. Eine zweite Platte ist nun auch schon in Produktion mit einem etwas cineastischeren Charakter. Diese Platte wird im Februar 2024 auf dem Schweizer Label Hallow Ground erscheinen.
Die Sounds von Musique Infinie verbinden zwei verschiedene kompositorische Ansätze. Welche sind das und wie stehen sie miteinander in Verbindung?
Genau dieser Ansatz war das Aufregende an unserer Kollaboration. Wir wollten herausfinden wie ein gemeinsames Werk klingen würde. Ähnlich wie wenn ein Paar wissen möchte, wie das gemeinsame Kind aussehen wird. Interessanterweise gibt es bei uns keine klare kompositorische Aufteilung. Bei jedem Stück oder gar jeder Passage gehen wir anders vor. Wir wechseln beliebig hin und her, zwischen Melodieführung und Rhythmus gibt es keinen klaren Akteur. Wir entscheiden spontan im Spielen. Wenn man dies überhaupt entscheiden nennen kann. Somit kann man sagen, dass wir in einem ersten Schritt eher auf einer improvisatorischen Ebene arbeiten. Im zweiten Schritt geschehen die detaillierten kompositorischen Entscheidungen quasi dialogfrei. Beide fügen ein und löschen, bis es stimmt.
Viele Tracks auf dem ersten Album von Musique Infinie haben einen unberechenbaren Klang, sie machen den Eindruck, als würde sehr viel darin stecken, das bewusst nicht als Teil eines großen Ganzen erkannt werden soll. Geht es euch um Entfremdung oder um ein Experiment, eine neue, eigenwillige Formsprache zu finden?
Von Anfang an wollten wir eine „genrefreie Musik“ schaffen, die sich aber paradoxerweise aus allem, was wir seit der Kindheit hören und all den verschiedenen musikalischen Stilen, die wir kennen, herauskristallisiert. Für uns hat dieses erste Werk schon fast einen poppigen Charakter (lacht). Aber uns ist bewusst, dass die meisten Zuhörer:innen diese Musik komplexer wahrnehmen als wir selbst.
Bringst du für die Arbeit an Musique Infinie ähnliche Ansätze mit ein wie für dein eigenes Material als Solomusikerin – etwa mit Blick auf deine Vorstellung eines symphonischen Maximalismus -, oder hast du eine andere Herangehensweise?
Die Frage nach einer Bezeichnung bzw. Definition unserer Musik war schon immer sowohl bei Manuel als auch bei mir eine offene. Die Bezeichnung „symphonischer Maximalismus“ wäre durchaus auch für Manuels Musik und auch für Musique Infinie angebracht. Das Orchestrale und die Dichte an Klänge ist eine Gemeinsamkeit von allen drei.
„Die menschliche Existenz selbst ist furchterregend euphorisch“
Klassische Musik, Jazz, Folk, auch Filmmusik, all das sind Bestandteile eurer Musik. Es fällt aber schwer, diese Genrepfade zurückzuverfolgen. Gibt es konkrete Inspirationen, Werke, Musikerinnen oder Musiker, die Vorbilder waren für die Platte oder gar (vielleicht erst beim zweiten Hören) zu vernehmen sind?
Wir haben keine konkreten Vorbilder. Unsere Inspiration basiert vielmehr auf gemeinsamen Gedanken, Emotionen und auf der Betrachtung der Welt, die uns umgibt, mit ihrer Gewalt, Dekadenz, Diversität, Chaos, Brutalität und Schönheit.
Ihr sprecht davon, dass eure Musik paradoxerweise zugleich furchterregend und euphorisch ist. Wie ist das genau gemeint und welche Emotionen bilden die Grundlage für die Platte?
Unsere Musik ist Ausdruck von vielen verschiedenen Betrachtungen der Welt. Deshalb sind die Gefühle darin durchmischt. Konkret könnte man sagen, dass das Album eine Mischform dieser gelebten Gefühle darstellt. Wie die Welt selbst spiegelt die Musik dieses gefühlte Paradox, das wir täglich im Alltag durchschreiten. Die menschliche Existenz selbst ist furchterregend euphorisch.
Der Abstraktionsgrad von „I“ lässt sich ja auch dadurch erklären, dass der ganze kompositorische Freiraum dadurch entsteht, dass verschiedene Produktionsmöglichkeiten und unterschiedliche Instrumente genutzt werden. Wie habt ihr da konkret zusammengearbeitet mit Blick auf Komposition und Inspiration?
Die Instrumentation wurde total spontan gewählt. Da das Album in verschiedenen Studios und auf Reisen entstand, beinhaltet die Musik zum Teil rein zufällige Instrumentationen, die aber dann durch unsere eigenen Manipulationen angeeignet wurden. Es beinhaltet viele entfremdete Klavierklänge, was wohl das einzige wirklich konstante Ausgangsmaterial darstellt. Manchmal von Hand, manchmal über Midi und einem Disklavier eingespielt. Dies verweist auf das Studio „Superbudda“ in Turin (Italien), wo wir viel Zeit verbracht und einen Grossteil der Arbeit gemacht haben.
„Kunst ist nichts anderes als eine abstrakte Darstellung der Realität“
Ihr sagt, dass eure Musik ein wenig das (nicht leicht zu fassende) Chaos, vielleicht gar den ganzen Ausdrucksreichtum unserer heutigen Welt widerspiegelt, also die Dominanz von Gewalt, Dekadenz und Zerbrechlichkeit, aber auch in ihrer Kraft, ihrem Einfallsreichtum und ihrer Schönheit. Ist das eine melancholische Haltung oder der Versuch, die Welt nicht nur emotional, sondern eben auch ganz intellektuell zu erfassen?
Unbedingt müssen wir die Welt auf beide Weisen erfahren und wiedergeben. Eine rein emotionale Darstellung und Auffassung würde wohl in noch mehr Chaos enden. Es ist wie schon gesagt ein Wechselbad zwischen Melancholie, Nostalgie und Euphorie. Eine schizophrene Haltung, mit der wohl die meisten Menschen täglich konfrontiert sind. Das Schöne an der Musik ist eben, dass man diese Parameter beliebig aufschichten, kontrollieren oder kombinieren kann. Kunst ist nichts anderes als eine abstrakte Darstellung der Realität. Deshalb sind wir grundsätzlich auch damit zufrieden, wenn der:die Zuhörer:innen diese verschiedenen Ebenen und Emotionen beim Zuhören durchmacht, was natürlich eine gewisse Herausforderung darstellt. So soll es aber auch sein.
Auch die Titel für eure Tracks sind durchaus sehr abstrakt. Was ist zum Beispiel mit „Zones Of Incorporation“ oder „Broken Mind Circuit“ gemeint? Für mich erwecken viele Namen den Eindruck, als beziehen sie sich gedanklich auf eine psychologische Sicht auf die Welt, zum Teil auch mit einem akademischen Anstrich.
Die Titel deuten sehr wohl auf diese psychologischen Erlebnisse hin. „Broken Mind Circuit“ ist wohl der Titel, der den Gemütszustand am genausten beschreibt. Es hat was Gebrochenes und sehr Kopflastiges, das ein Wechselspiel aller möglichen Emotionen und Gedanken hervorruft und in einem Kreislauf immer wieder von sich gibt. Wir haben zwar beide einen stark akademischen Hang, jedoch handeln wir eher intuitiv, auch bei der Kreation der Titel. Wir überlassen die Titel und deren Bedeutung lieber dem:der Zuhörer:in. Etwas nicht zu wissen, lässt dem Publikum die Freiheit, eine eigene Gedankenwelt dazu aufzubauen.