Musikalisches Method- Acting: PJ Harvey taucht ins Meer der Erinnerungen

Es gab Zeiten, da mußte man sich ernstlich Sorgen machen um Polly Harvey. Nach dem Erscheinen ihres Debüts, auf dem sie nach einer gescheiterten Beziehung radikalen Exhibitionismus betrieb, wurde sie von der britischen Presse zur Schlachtbank gefuhrt. Dir Privatleben wurde öffentlich. Daß mit den Pop-Paparazzi ihrer Heimat nur sprechen sollte, wer die Kunst der Inszenierung beherrscht, wußte sie noch nicht Als sie kurz darauf in Deutschland Interviews gab, begegnet man einem mißtrauischen Menschen. Fragen zu ihren Lyrics durften gar nicht erst gestellt werden, die anderen wurden nur nach Absegnung des anwesenden Managers beantwortet. Selbsterhaltungsversuche einer Erniedrigten.

Drei Jahre und zwei Alben später ist alles anders. Polly Jean Harvey hat in ihre Heimatstadt eingeladen, ein freundliches Städtchen an Englands Südküste, um über das neue Werk Auskunft zu geben. Wir sitzen in einem Pub, wo Enkel und Großeltern gemeinsam die Pints bestellen, und mir kommt es vor, als würden die Dielenbretter beständig gemütlich knarzen. Die 25jährige wirkt durch einen üppigen Teddyfell-Mantel und ihre sanfte Eleganz deplaziert wie Tippi Hedren, als sie in Hitchcocks „Birds“ mit Pelz durchs Fischerdorf Bodega Bay stöckelt – die herzlichen Begrüßungen hereinschneiender Leute weisen sie jedoch als Einheimische aus.

Interessiert hört sie sich jede Frage an, ihre Augen funkeln zuweilen. Was ist passiert in den letzten drei Jahren? „Ich bin viel ruhiger geworden. Ich zerbreche mir nicht mehr so sehr den Kopf, statt dessen sehe ich bei allem die komischen Seiten. Was passiert, passiert eben.“ Eine Risiko-Freude, die kleine Katastrophen zur Ursache haben könnte – aber auch die große künstlerische Erfüllung. So hat Harvey die Geborgenheit des Trios, mit dem sie die beiden ersten Platten eingespielt hat, aufgegeben. „To Bring You My Love“, das neue Album, hat sie im Alleingang konzipiert und zu großen Teilen eigenhändig aufgenommen. Hört man das vorherige Album „Rid Of Me“, lag in diesem Schritt wahrscheinlich die einzige Perspektive – wurde mit diesem zweiten Werk doch der Endpunkt einer Sound-Exkursion markiert: Unter Anleitung des Feedback-Virtuosen Steve Albini ließ Polly Harvey ihren modernen Blues in perfiden Frequenzen fiepen. Da wurde nichts gefiltert.

Jetzt wird das Rohe vom Theatralischen verdrängt, das Wuchtige vom Zähen. Auf „To Bring You My Love“, von Flood co-produziert, sind die verschiedenen Klang-Ebenen kunstvoll ineinander verkeilt. Während die Songwriterin mit Referenzen an Suicide den Rock’n’Roll vom Fluch des „Handgemachten“ befreit und auf den Keyboards psychotische Bass-Patterns legt, sorgen Percussion, Piano und Streicher in den meisten Tracks lediglich für eine Grundierung. Darüber thront der Gesang.

Schon zuvor beherrschte sie die verschiedenen Idiome der Stimme. Vom Schluchzen bis zum Schreien. Doch jetzt erhebt sie Polly, die übrigens direkt nach dem Gesangsunterricht beim Gespräch erscheint, zum Zentrum. Bei „Working For The Man“ etwa drückt sie die Luft direkt unter ihrer Schädeldecke hervor, die Klagelaute von „C’Mon Billy“ entstehen in der Kehle, und im Beton-Blues „Long Snake Moan“ stößt sie die Töne aus des Bauches Tiefe hervor. „Alle Stücke stehen und fallen mit der Stimme“, bestätigt die Vokal-Artistin.

Daraus ergibt sich ein ganz neues Selbstverständnis als Performerin. „Früher entwickelten meine Songs eine eigene Identität“, berichtet sie. „Erst waren sie sehr privat, und ich war beim Singen unangenehm berührt. Je öfter ich sie auf der Bühne spielte, desto mehr lösten sie sich von mir. Desto mehr verlor ich aber auch den emotionalen Bezug. Jetzt basieren die Stücke mehr auf Atmosphäre, weniger auf strukturellen Merkmalen. Ich muß mich jedesmal neu auf das Gefühl einlassen, das mich beim Schreiben beeinflußt hat Und das funktioniert nur über die Stimme.“ Also arbeitet sie nach Art des Method-Acting. „Ja, genau. Ich habe auch gemerkt, wie wichtig Kleidung oder Masken sind. Bevor ich in Bands spielte, hatte ich freies Theater gemacht Jetzt erinnere ich mich wieder an viele Sachen, die ich damals gelernt habe und baue sie in meine Auftritte ein.“ Einen Eindruck davon konnte man schon im Video zur neuen Single „Down By The Water“ gewinnen. Pollys Gesicht ist grell geschminkt, beinahe entstellt, sie trägt ein mondänes rotes Kleid und läßt lasziv die Lenden kreisen. Die Besucher, die sich diesen Monat bei Konzerten von R.E.M. einfinden, werden mehr sehen – PJ Harvey bestreitet in Deutschland das Vorprogramm. Dafür legt die begnadete Instrumentalistin ihre Gitarre ab und setzt auf -Begleitmusiker. Bis jetzt hat die Formation nur einige wenige Warmup-Shows gegeben; ob das Publikum in den Rock-Arenen die ungewohnte Dramaturgie akzeptieren wird, steht in den Sternen. Die Künsderin kratzt das nicht „Wenn ich mich zum Idioten mache, ist das eben so. Na und?“

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