Multikulti unter dem Eiffelturm
Kulturnation Frankreich? Hah! Große Baumeister, Komponisten, Maler? Zu Staub zerfallen, vor Jahrhunderten schon! Dichter, Denker, Visionäre? Vergessen, überhört oder, besonders böse, zu erstarrten Monumenten stilisiert. Und Musiker? George Brassens, Charles Trenet, Serge Gainsbourg? Alle tot! Nur Plastic Bertrand geht es wohl immer noch gut „Das Problem ist, daß man, wenn man von der französischen Musikszene spricht, immer nur von der Vergangenheit spricht“, meint der französische Sänger Kent. „Die großen Chansonniers sind gestorben, Nachfolger gibt es nicht. Aber meine musikalischen Wurzeln liegen nun mal im Chanson, das habe ich mit der Zeit festgestellt. Deshalb habe ich irgendwann angefangen, selber welche zu schreiben.“
Auf den ersten Blick scheint der 39jährige, dessen Künstlername Kent Cokenstok von einem „Tim und Struppi“-Abenteuer inspiriert ist, damit ganz im Trend zu liegen. Schließlich schwemmte uns die Easy-Listening-Welle erst kürzlich den Franzosen Katerine an, der auf „Mes Mauvaies Fréquéntations“ flotte Lieder in federleichte Arrangements kleidet und damit an die schöne, nur scheinbare Einfachheit alter Songs erinnert. Anfang nächsten Jahres steht zudem mit Enzo Enzo eine weitere Formation ins Haus, die mit exzellenten Kompositionen und exquisiter Instrumentierung die Chanson-Tradition der grande nation fortführt.
Doch bei Kent liegt der Fall tatsächlich anders: Zum einen hat der in Lyon geborene Arbeitersohn seine Karriere vor fast 20 Jahren mit Punk begonnen – und dessen Energie nie ganz verloren. Zum anderen schreibt der mit Frau und Kind in Paris lebende Kent seine Lieder nicht erst seit dem Easy-Listening-Revival – was ihn in seiner Heimat längst zu einem household-name hat werden lassen.
Zudem ist es heute bekanntlich ohnehin nicht so einfach mit dem Begriff Heimat. Nicht einmal im musikalischen Sinn. „Wenn ich bei mir zu Hause den Kopf aus dem Fenster stecke, höre ich Musik aus aller Welt. Von unten kommen spanische Gitarren, von links algerischer Rai, von rechts afrikanische Musik. So etwas beeinflußt einen unweigerlich. Bei mir führte es zu ‚Nouba‘.“
‚Nouba‘ ist das nun auch bei uns veröffentlichte neue Album des Multitalents, das früher nebenher Comics zeichnete (noch eine aussterbende französische Kunst) und manchmal als Schauspieler tätig ist. Akkordeons treffen aufwirbelnde Percussion, Rai-Zitate auf leichtfüßige Popmelodien, hochgradig poetische Texte (französisch, naturellement!) auf veritable Energieausbrüche.
Unterstrichen wird der musikalische Internationalismus noch durch die Wahl des Produzenten Mitchell Froom: In den letzten zehn Jahren zauberte der Amerikaner für Los Lobos, Crowded House und Suzanne Vega eigenwillige Klangwelten zwischen Industrielärm und intimem Wispern. Für Kent kreierte er diesmal einen modernen, mediterranen Sound.
Im Konzert allerdings, kürzlich im Vorprogramm von Element Of Crime auch in Deutschland, erinnert Kent samt Band eher an die wüste Multikulti-Truppe Les Negresses Vertes – und macht so selbst frankophoben Zweiflern klar, daß das Chanson der Zukunft keineswegs wie das Chanson der Vergangenheit klingen wird.
So ist das eben, wenn ein Musikstil wider Erwarten doch nicht tot ist.