Motortown Revue
Die Busse waren alt, und Geld gab es auch keins“, erinnert sich Mary Wilson von den Supremes, „aber es waren trotzdem die besten Jahre. Wir waren wie eine große Familie.“ 1962 hatte sich Motown Records vom kleinen Chicagoer Label mit gerade mal 800 Dollar Startkapital zur Erfolgsfirma mit Hits von den Contours, den Marvelettes und den Miracles entwickelt. Um die Botschaft weiter zu verbreiten, erfand Motown-Gründer Berry Gordy Jr. die „Motortown Revue“, ein Tourpaket, das der Firma Schlagzeilen einbrachte und dem strengen Motown-Moralkodex Genüge tat, indem es die Musiker mit Aufpassern durch die Lande reisen ließ.
Das erste Konzert fand Ende Oktober im Howard Theater in Washington D.C. statt. Es folgten Auftritte in 19 Städten, davon 15 im streng rassengetrennten Süden, sowie zehn Abende im, Apollo Theater“ in Harlem. Auf dem Programm standen neben den Miracles, den Marvelettes und Mary Wells auch die Supremes, Martha Reeves und die Vandellas, die Contours, Marvin Gaye und, wie er damals hieß, Little Stevie Wonder, „das zwölfjährige Genie“.
Die Kritiken waren gut, die Bezahlung schlecht. Die Supremes verdienten 290 Dollar pro Woche. Dafür spielten sie, wie alle anderen, ein straff choreographiertes zehn- bis 20-minütiges Set. Die Miracles, die mit ihrem zweiten Nummer-eins-Hit „You’ve Really Got A Hold On Me“ gerade die R&B-Charts anführten, kamen als letzte.
Die Konkurrenz zwischen den Gruppen war enorm. „Wir wurden die No-Hit-Supremes genannt“, erzählt Wilson. „Wir mussten uns vors Publikum stellen, unsere zwei Songs singen und hoffen, dass keiner von uns umkippte.“ (Den ersten richtigen Hit landeten die Supremes erst 1964 mit „Where Did Our Love Go?“) Tourmanager Thomas „Beans“ Bowles ließ Stevie Wonder immer vor Marvin Gaye auftreten. „Stevie war ein Energiebündel und hatte das Publikum sofort im Griff. Marvin musste danach alles geben, sonst wäre er durchgefallen.“ Zu seinem Glück schaffte Gaye das fast immer. „Die Leute saßen dir fast auf dem Schoß“, berichtete er später. „Die Frauen kreischten dir direkt ins Gesicht. Ich hatte die Hosen gestrichen voll.“
Im Süden, wo vor vielen Veranstaltungsorten die Flagge der Konföderierten wehte und Schwarze und Weiße getrennt saßen, musste die Truppe ständige Demütigungen hinnehmen. „Für uns Schwarze war es ziemlich entmutigend, andere Schwarze oben auf den Rängen hinter dem Geländer stehen zu sehen“, erzählt Katherine Anderson Schaffner von den Marvelettes. „Du versuchst, eine gute Show hinzulegen, aber die ganze Zeit klopft dein Herz wie wild, weil du nicht weißt, ob nicht etwas passieren wird.“
Motown zog schwarze wie weiße Zuhörer an, und so war ihre Musik auch eine Musik der Veränderung. ,Als wir in Orlando ankamen, war es heiß und stickig“, erzählt Wilson. „Deshalb rannten wir gleich zum Pool des Motels. Doch als wir reinsprangen, verließen die Weißen geschlossen das Becken. Dann fing jemand an, Platten zu spielen und wir sangen mit. Als sie merkten, wer wir waren, rückten die Weißen langsam wieder näher – und zum Schluss feierten alle zusammen.“