Reportage

MondoVerse – Ein Besuch bei den Film- und Soundwelten von Mondo Sangue

Im unscheinbaren Böblingen im schwäbischen Ländle erhob sich an einem sonnigen Samstagabend inmitten eines beschaulichen Marktplatzes das sogenannte „MondoVerse“: ein fiktives Film-Universum, welches die akustischen Welten der Stuttgarter Musik-Kombo Mondo Sangue und ihrer cineastischen Vorbilder darstellen sollten.

Im Deutschen Fleischermuseum, welches normalerweise über das Fleischerhandwerk vergangener Jahrhunderte liebevoll und aufwändig informiert, konnte der Besucher am vergangenen Wochenende auf mehreren Etagen in die Welten vergessener Filmkompositionen und Filme eintauchen. „Mondo Sangue“, von Christian Bluthardt und Yvy Pop 2015 gegründet, hat es sich zur Aufgabe gemacht, fiktive Soundtracks zu nicht existenten Filmen zu komponieren, die allerdings allesamt eine liebevolle Hommage an die großen Werke des europäischen Genre-Kinos der 1960er- und 1970er-Jahre darstellen.

Ob Italo-Western, Giallo, Kannibalenfilm oder B-Movie, kaum ein Genre scheint ihnen fremd zu sein. Nicht ohne Erfolg. Mittlerweile sind die Alben aufgrund der hohen Nachfrage heißbegehrte Sammlerstücke, die wiederum von zahlreichen etablierten Künstlern unterstützt werden. Für das bereits 2020 erschienene Album „VEGA-5 (Avventure nel Cosmo)“, eine musikalische Hommage an die Science-Fiction-Filme der 1960er-Jahre, konnte Bela B. von der „besten Band der Welt“ als Gast-Vokalist gewonnen werden. Auch in dem Video zur Single-Auskopplung trat er auf:

Die aufwändigen Kulissen und Requisiten zum Musikvideo entstanden in stundenlanger Heimarbeit, unterstützt von Freunden und Familien. Planeten, Raumschiffe, Laserpistolen und Raumanzüge wurden aus Alltagsgegenständen, Pappmaché und Kartonage mühevoll erstellt. Sie versprühen einen unnachahmlichen Charme einer längst untergegangenen Welt der Film- und Fernsehproduktionen. Eine Zeit, als für die sogenannte „Overkill-Anlage“ der „Raumpatrouille Orion“ (1966) noch ein Bügeleisen der Marke „Rowenta“ herhalten musste oder Captain Kirk vom „Raumschiff Enterprise“ („Star Trek“, 1966–1969) Styropor-Felsbrocken auf außerirdische Widersacher niederregnen ließ. „Mondo Sangue“ ist somit mehr als nur Musik; es ist ein Konzept eines eigenen Universums, welches sich über unterschiedliche audiovisuelle Medien erstreckt, die natürlich auch Freiräume zur eigenen Interpretation bieten.

Die Möglichkeiten, dieses nun nicht nur passiv als Zuhörer der Musikalben oder Zuschauer der Musikvideos zu erleben, sondern aktiv zu betreten und ein Teil von ihr zu werden, ist das Ziel der Ausstellung im „MondoVerse – Die Film- und Soundwelten von Mondo Sangue“ im Fleischermuseum Böblingen.

„„Die Musik ist das, was die Filme so besonders macht und warum so viele Leute italienische Genrefilme bis heute abfeiern“
– Christian Bluthardt“

Jeder Raum wurde einem Album von „Mondo Sangue“ gewidmet und unterwirft sich vollends der Ästhetik ihrer jeweiligen Soundtracks zu fiktiven Filmen. Requisiten und Kulissen aus den Musikvideos, als auch Hommagen an das eigene Werk und ihrer Vorbilder werden ausgestellt. Viele Räume sind nur mittels einer Taschenlampe begehbar; auf jeden Zentimeter gibt es etwas zu entdecken (und auch sich zu erschrecken…). Das „MondoVerse“ ist Zeitreise, Kunstausstellung und Geisterbahnfahrt zugleich.

Manche Räume sind nur mit Taschenlampe begehbar
MondoVerse-Requisite

Der Weg zum Stillen Örtchen wird mit lauten Referenzen auf die italienische Sommerkomödie und die „Italo Disco“ der frühen 1980er-Jahre begleitet. Eine Würdigung auf den Spaghetti-Western der 1960er-Jahre mitsamt Lagerfeuer-Romantik geleitet den Gast in einen Raum ausgeschmückt mit Tierpräparaten, und eine gänzlich fremde Welt in einer fernen Galaxis darf der Besucher ebenfalls entdecken. Beim Betreten dieses Raumes begrüsst den Gast übrigens ein weißes Skelett – man kann nur mutmaßen, welch arme humanoide Seele hier ihr Ende fand –, das in diesem Kontext unweigerlich Erinnerungen an Mario Bavas „Planet der Vampire“ („Terrore nello spazio“, 1965) hervorruft. Aus der fernen Galaxis geht es tief in den Dschungel des italienischen Kannibalenfilms. Selbst das wohl umstrittenste Subgenre des italienischen Kinos fand bereits mit „Mondo Sangues“ erstem Album unter dem Titel „L’Isola dei Dannati“ eine Würdigung, und die Kannibalen dürfen nun im Fleischermuseum ihrem ganz eigenem Metzger-Handwerk nachgehen.

Im VHS-Himmel von MondoVerse

In diesem stickigen, von Pflanzen umschlungenen Raum, präsentieren sich auf alten Röhrenfernsehern, angeschlossen an Videorecordern, die Höhepunkte des Kannibalenfilms der 1970er-Jahre (vielleicht auch eine persönliche Referenz auf die eigene Entstehungsgeschichte: Christian Bluthardt und Yvy Pop lernten sich in einer Videothek kennen). Alte VHS-Kassetten, als auch Super-8-Filme werden von Kakerlaken umzingelt ausgestellt – insgesamt wurden über 780 künstliche Kleinsttiere verbaut! –, Zelluloidbänder von pornografischen Filmen hängen wie Lianen von der Decke, und aus dem Off ertönen Mondo Sangues‘ Melodien, die wiederum die bis zum heutigen Tage vollkommen unterschätzten Musikstücke zu den besagten Kannibalenfilmen honorieren.

Man denke hierbei nur an Riz Ortolanis legendäre Titelmelodie zu Ruggero Deodatos reißerischen Kulturschocker „Nackt und zerfleischt“ („Cannibal Holocaust“, 1980). Eine solch fantastische Komposition, die – wenn man sie außerhalb des filmischen Kontexts spielt – sogar Kinder dazu animierte, unbefangen zu tanzen, und das ältere, eigentlich unbeteiligte Kleinstadt-Publikum, welches nicht unweit entfernt vom Fleischermuseum in einer naheliegenden Pizzeria gastierte, zur Nachfrage ermutigte, von wem denn diese „bezaubernde Musik“ (Zitat) stammt. Die Antwort wird sie hoffentlich nicht schockiert, sondern für Kunstwerke geöffnet haben, mit denen sie ansonsten wohl nie in Berührung gekommen wären. Laut Christian Bluthardt war eine ältere Besucherin, die eher zufällig während eines Stadtspaziergangs vorbeischaute, von der Vermischung von Musik und Film so positiv überrascht, dass sie explizit nach Empfehlungen fragte und am liebsten sofort fünf Giallos hintereinander schauen möchte.

„„Die meisten Leute wissen überhaupt nicht, wie sich die Musik zu einem Kannibalenfilm anhört. Ich glaube, dass Musik einfach ein Türöffner ist und Leute durch diese Tür gehen können, wenn sie das möchten, und sich den kompletten Filmgenres öffnen können“
– Yvy Pop“

Und dies ist wahrscheinlich auch das größte Verdienst dieser wilden Show: es verbindet auf sensationelle Weise, an einem eigentlich unscheinbaren Ort, Kunst aus vollkommen unterschiedlichen Richtungen. Schwäbische Kleinstadt trifft auf fremde Planeten, deutsche Metzger auf südamerikanische Kannibalen, italienische Sommerkomödie auf Giallo, rauschende Röhrenfernseher auf digitale Projektionen und Kunst auf Kommerz. Ein wundervoller Kontrast, der nicht größer hätte ausfallen können und genau deswegen so spannend ist.

„„Was unsere Musik oder unser Konzept eigentlich spannend macht, ist, dass wir die Genrefilm-Einflüsse versuchen zu Popmusik umzuformen. […] Das ist alles eingebettet in diesen Kosmos von dem jeweiligen Film, den wir erfunden haben. […] Es ist immer eine Platte über einen hypothetischen Film, den es nie gab. Aber es gibt eben auch Songs, es gibt Lieder. Es gibt gute Laune, es gibt schlechte Laune. Es gibt Mord, es gibt Totschlag. Es gibt alles“
– Christian Bluthardt“

So lud zumindest für den Genrefilm-affinen Besucher bereits der Gang zum Fleischermuseum zu mannigfaltigen amüsanten Interpretationen ein. Der Weg vom Parkplatz zum Museum führt über eine lange, steile Treppe, die bereits beim ersten Anblick an William Friedkins Horrorklassiker „Der Exorzist“ („The Exorcist“, 1973) erinnerte. Besagte Treppe endet auf einem Kirchenvorplatz, auf dem eine Skulptur unter dem Titel „Künstler gegen Müllverbrennung“ zur Schau gestellt wurde, die beim geneigten Horrorfan wiederum Assoziationen auf die legendäre „Säule der Seelen“ aus dem Horror-Sequel „Hellraiser III“ („Hellraiser III: Hell on Earth“, 1992) aufkommen ließ. Sicherlich: alles amüsante Deutungen, aber nicht so weit hergeholt, wie man zuerst glauben möchte …

Das lokale filmische Erbe muss sich nicht einmal auf Hommagen oder persönliche Interpretationen berufen. Nur einen Kilometer von Böblingen entfernt liegt Sindelfingen, Heimatstadt von Hollywood-Regisseur Roland Emmerich, der dort auch seine ersten Werke inszenierte. Nun war somit aufgrund des interessierten, bunten Publikums neben dem europäischen Genrefilm auch plötzlich Hollywood Gesprächsthema und ein Teil dieses abenteuerlichen „Clash of Cultures“; diese wilden Moshpits an filmischen Einflüssen, musikalischen Interpretationen und persönlichen Erlebnissen und Eindrücken von Gastgebern als eben auch Gästen.

„„Die Musik, die wir machen, ist von Liebe getrieben“
– Yvy Pop“

Doch im Gegensatz zu Emmerich, der nach Hollywood ging, will Mondo Sangue der schwäbischen Realität nicht entfliehen, sondern bettet diese bewusst in ihr Werk ein. Vor der Kulisse des besagten Böblinger Marktplatzes und in den Räumen des Fleischermuseums entstand das Musikvideo ihres aktuellen Konzeptalbums „Rosso come la Notte“. Eine große musikalische Verbeugung vor dem Werk von Dario Argento, Sergio Martino, Lucio Fulci als auch Mario Bava. Auch dieses passt durchaus, wurde doch Argentos Horror-Drama „Suspiria“ (1977) nicht unweit entfernt in Freiburg inszeniert. Ein Film, der vor allem auch aufgrund seiner ungewöhnlichen Kulisse – ein italienischer Giallo in einer badischen Universitätsstadt – heutzutage als Klassiker seines Genres gilt.

Das „MondoVerse“ ist somit nicht nur auf die Aufstellungsräume des Museums beschränkt – hat man den Böblinger Marktplatz betreten, so ist man bereits mitten drin. Nämlich an dem Ort, an dem die Tierpräparatorin Barbara eines Nachts spurlos verschwunden ist, wie uns das Musikvideo zu „Rosso come la Notte“ erzählen möchte …

Das „MondoVerse“ wird noch viele weitere Universen erschaffen. Hoffen wir, dass der Kannibalendschungel, dessen Pflanzenwelt aus einer befreundeten WG stammt, die Ausstellung in den abgedunkelten Räumen überleben wird. Und wenn nicht, dann hätte auch dies zumindest einen gewissen morbiden Touch, der zu den in Vergessenheit geratenen Werken und untergegangenen Filmwelten passt. Alles vergeht, nichts ist für die Ewigkeit, und man kann es in Gänze nur dann wirklich erleben, wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Dies wäre dann bis zum 19. Juli im Deutschen Fleischermuseum in Böblingen möglich.

Markus Haage
Markus Haage
Markus Haage
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