Momentaner Bildschirm-Schoner

Nach dem Hamburger "X-Ray-Vision"-Debakel nimmt Ex-MTV-Star Ray Cokes seine TV-Auszeit beim Radio. Doch das Gummigesicht will wieder vor die Kameras

Don’t blame me, it’s the MTV-executives“ – waren die famous last words von Ray Cokes bei seinem damaligen Haussender MTV. Und dann folgte noch ein kleiner Nachschlag, den die Fernsehzuschauer seiner „X-Ray-Vision“, live übertragen von Hamburgs Reeperbahn, nur noch ganz leise aus dem Off vernehmen konnten: „Let’s get the fuck out of here.“ Und er war draußen – nach neun Jahren beim weltweit erfolgreichsten Clip-Sender und als einziger Überlebender jener Besetzung, die 1987 auch in Europa begann, den Kosmos der Kids in bewegte grellbunte Bilder mit ultrakurzen Frequenzen zusammenzufassen. Der 39jährige nahm bei MTV von jeher den Position des anarchischen Spaßvogels ein, neugierig genug, die Mittel des jungen Mediums in all seiner Breit und Tiefe auszuloten und so erwachsen, sich dabei nicht überall hereinreden zu lassen. Jahrelang war Cokes‘ Gesicht bei „Most wanted“ wochentäglich ganz nah an der Mattscheibe. Während er per Telefonschaltung in die Haushalte seiner Hörer einfiel, zoomte die Handycam mitten ins grinsende, grimassierende Segelohrengesicht, wenn die überraschten europäischen Teenager ehrfurchtsvoll ihr Schulenglisch hervorkramten oder euphorisch kreischend einem Mann huldigten, der locker ihr Vater hätte sein können. Die Zauberformel: Respektlosigkeit gepaart mit halsbrecherischem Tempo und einem Ungezwungensein, das auch auf solche Studiogäste wie Duran Duran oder etwa Herbert Grönemeyer abfärbte.

Der plötzliche Abgang bei MTV ist denn auch direkt mit der Aufgabe dieses Konzeptes verknüpft. Cokes erlag der Verlockung, der früher oder später jeder TV-Macher anheim fällt: Der Hang zur anspruchsvollen, abendfüllenden Sendung. Nach all den Jahren des alltäglichen Wahnsinns zog es ihn zur großen Samstagabend-Show, nicht anders als die Schanzes, Schmidts und Elstners vor ihm. Live sollte es immer noch sein, und ein big event. „Eine solche Show aber braucht große Stars, um das Publikum über anderthalb Stunden zu fesseln“, will Cokes schon früh erkannt haben, „und die konnte MTV mir nicht liefern, wahrscheinlich, weil ich in meinen Sendungen niemals devot war und auch unbequeme Fragen gestellt habe.“

Die Besetzung am 9. Mai auf dem Hamburger Spielbudenplatz war jedenfalls alles andere als atemberaubend: Neben Dog Eat Dog und dem Rödelheim Hartreim Projekt gab es fürs Auge eine Nixe von „Baywatch Nights“ – selbst in Deutschland zu wenig, um glänzen zu können. Cokes: „Ich ahnte, was da kommen würde und wollte nicht hin, aber schließlich gab’s ’nen Vertrag, und sie zwangen mich dazu.“ Die Pressemaschine rollte an und versprach zum Gratis-Event auch ein „live-link with Die Toten Hosen“, was alle Welt, nur nicht die „Hamburger Morgenpost“, als Videoübertragung auffaßte. Die „Mopo“ schrieb dagegen von einem Live-Auftritt der Hosen, was den armen Ray vor Ort in die undankbare Lage versetzte, einem erbosten Hafenstraßenpublikum, das er nicht verstand, erklären zu müssen, was sie nicht verstanden. Die Punks sahen einen Moderator, der ihnen ein Bild für eine Band vormachen wollte, der Moderator sah 50 zornig-pöbelnde „Tote-Hosen-Skinheads“, die ihn bespuckten und mit Dosen bewarfen.

Eine Klärung wurde endgültig unmöglich, als gewaltsam das PA-Kabel durchgetrennt wurde. Mit Ach und Krach wurde die Sendung fürs Fernsehen zu Ende gebracht, wobei Cokes-Partnerin „Naughty Nina“ noch eine Stichwunde davontrug. „X-Ray-Vision“ verschwand anschließend aus dem Programm von MTV – und nach einer Kulanzzeit auch Cokes.

„Ich kam zurück nach London, und mit einem Mal gaben mir alle die Schuld an diesem Flop“, ist Cokes auch fünf Monate danach noch entrüstet, „dann haben sie mich erst einmal aufs Abstellgleis geschickt, so nach dem Motto: Mach doch lieber mal ein paar Tage Urlaub, Ray.“

Nicht unbedingt das MTV-Finale, das Ray Cokes vorausgesehen hatte, obwohl ihm seine Sonderstellung bei MTV ja durchaus bewußt war, denn nur in seinem Fall hat man zugelassen, daß eine Person populärer wurde, als die drei großen Buchstaben am rechten, oberen Bildschirmrand. Gerade deswegen, so Cokes, „hätte ich die zehn Jahre schon gerne voll gemacht“. Dabei gab’s durchaus die Gelegenheit zum Absprung ins ältere Fach, als der Viacom-Konzern Ende 1994 mit VH-1 eine Alternative für gereifte Zuschauer und Moderatoren bot. Doch Cokes winkte damals ab: „Die stellen sich hin und sagen: Hier bei uns wird Musik ernst genommen. Und ernst bin ich ja nun wirklich nicht.“

Nun verbringt er seine fernsehlose Zeit beim Berliner DJ-Radio Kiss FM. Der Sender mit den ausbaufähigen Quoten hat sich das dreimonatige Engagement des Prominenten etwas kosten lassen, schließlich finden in dieser Phase die Quotenerhebungen für die Werbewirtschaft (MA) statt Für Cokes eine willkommene Gelegenheit, seinen Humor nicht einrosten zu lassen – wobei er komplettes Neuland betritt. Radio nämlich hat der Mann noch nie gemacht, dessen Karrieretransfer Ende der Achtziger direkt von der Küche des Brüsseler „Hard Rock Cafes“ vor die TV-Kameras erfolgte. Nun hilft ihm keine Grimasse mehr. Unter dem Titel „Voll auf Cokes“ überträgt er das Konzept von „Most wanted“ aufs Radio, holt Hörer ans Telefon und läßt „Naughty Nina“ Berliner Clubs testen. Daß Kiss FM ein Black-Music-Sender ist, bereitet Cokes ein wenig Kopfzerbrechen, denn „eigentlich bin ich ein Guitar-Band-Man“.

Aber er sitzt ja bereits an einem neuen Fernsehkonzept – top secret, natürlich – aber vermutlich nicht viel anders als das, was ihn bei MTV so erfolgreich gemacht hat. Den Rückzug in die Regionalliga, wie er ihn kurzfristig bei Kiss FM betreibt, will Cokes im TV nicht fortsetzen, sondern auch in Zukunft europaweit, wenn nicht gar weltweit zu sehen sein.

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