Moers: Das etwas andere Festival
An Pfingsten wurde am Niederrhein wieder die Avantgarde-Musik gefeiert
Wer das Hurricane-Festival gewöhnt ist oder Rock am Ring, ja selbst den sehr entspannten ROLLING-STONE-Weekender, der wird beim Moers-Festival staunen. Zu Pfingsten spielen hier an vier Tagen viele exzellente Musiker, aber alle treten bescheiden auf, die Zuschauer konzentrieren sich so sehr auf die Musik, dass sie sogar das Biertrinken zu vergessen scheinen, und zwischendurch gibt es noch interessante Diskussionen und immer wieder improvisierte Sessions. 1972 als „New Jazz Festival“ gegründet, ist es längst mehr als das – auch wenn die Zukunft wegen finanzieller Probleme zuletzt oft wackelig schien. Am mangelnden Publikumsinteresse kann’s jedenfalls nicht liegen.
Schon beachtlich, was der künstlerische Leiter Tim Isfort und seine Leute hier geschaffen haben – „einen guten Ort für leuchtende Vögel aus allen Himmelsrichtungen“, wie er selbst sagt. Aber nicht nur einen Ort. Vom Schlosspark bis zum Dorfplatz, von Cafés und Kirche bis zum Schwimmbad (kein Witz!): Überall spielt Musik, und in der Festivalhalle gibt es zwei gegenüberliegende Bühnen, so dass die Umbaupausen kurz sind und die Freude umso länger ist. Richard Dawson wirkt am Samstag nur kurz verwirrt deshalb: In welche Richtung soll er seine wilden Folksongs nun singen, da vor und hinter ihm Leute sitzen und stehen?
In Moers herrscht Abenteuerlust und Improvisation
Ach, egal. Optisch täuscht der Mann aus Newcastle ohnehin: Sieht aus wie ein Buchhalter, singt aber wie ein Berserker. Trotz Zahnschmerzen schmettert er voller Inbrunst seine Lieder von Arbeitern und Außenseitern, Hunden, Neugeborenen und Soldaten, Katastrophen und anderen Kleinigkeiten; die sechsköpfige Band samt Harfe und Geige ist immer im richtigen Moment zur Stelle. Bloß dem Bassisten wird die Rauchmaschine am Ende etwas zu viel, ein Fächer aus dem Publikum hilft ihm wenig. Der Qualm wäre gar nicht nötig gewesen, der Auftritt ist spektakulär genug. Dawson, Efterklang, Peter Brötzmann – ein paar Musiker kennen auch Avantgarde-Laien, doch die Namen sind gar nicht so wichtig, mehr der Gesamteindruck: dass so viel Abenteuerlust und Improvisation, Freude am Musizieren ohne viel Angeberei und Showeffekte noch möglich sind!
Am Sonntagnachmittag spielen – zwischen Ravi Coltrane und dem Psych-Jazzrock der Horse Lords – Mikrosaivo, ein Projekt von Tom Liwa mit Didier Malherbe, einst Flötist/Saxofonist bei den legendären Gong. Malherbe wechselt zwischen der Duduk und etlichen anderen Blasinstrumenten, Guiseppe Mautones Percussion ergänzt die Wundertöne aufs Schönste, dazu spielen Liwa und Daniel Maskow Basssynthesizer – kleine Dinger, große Wirkung. Die Stücke klingen nicht wie von dieser Welt, was auch daran liegt, dass Liwa auf Halverstek singt, einer Fantasiesprache. In Moers ist alles möglich.
Am Abend sitzt einer der Besucher vor der Festivalhalle im Gras, schaut noch einmal auf das Programm, erzählt von seinen Neuentdeckungen und sagt, über sich selbst den Kopf schüttelnd: „Aber ich habe nicht mal die Hälfte gesehen.“ Seine Begleitung erwidert: „Immer dasselbe.“ Darauf er: „Deshalb freue ich mich schon aufs nächste Jahr.“