Mit Nackenhaar und heiligem Ernst
Durch Künstler wie BAP, Grönemeyer, Maffay und Lindenberg wird Deutschrock in den Jahren zwischen Nato-Doppelbeschluss und Mauerfall zur echten Volksmusik. Und ist, retrospektiv betrachtet, deutlich besser als sein Ruf.
Am Anfang steht zweifellos Peter Maffay – und wer bei diesem Namen schon böse wird, sollte besser nicht weiterlesen, denn es kommt noch mehr aus dieser Güteklasse. Peter Maffay jedenfalls lässt im Herbst 1980 ein eigenartiges Geräusch los, ein kurzes Stöhnen, wie von einem Tennisspieler, Holzfäller oder grimmigen Hund. Ein Ausdruck größter Anstrengung oder Wut, ganz am Anfang des ersten Songs „Rock & Roll“ der LP „Revanche“. Und während seine Musiker wie ein Trupp treuer Cowboys den Boogie vor sich hertreiben, singt Maffay zickig: „Gib mir ’ne Band und ein Instrument und drehe den Verstärker auf/ Lass der Kraft, die ich so lang gezügelt hab, endlich wieder freien Lauf!“
Deutlicher geht es kaum. Hier rockt einer nur dem Rock zuliebe. Nicht für Mama, nicht gegen Papa, nicht für den Weltfrieden. „Denn wenn ich singe, spiele, alles gebe, fühl‘ ich Rock & Roll in mir!“ Oft gehört, aber wie oft hatte ein deutschsprachiger Song diesen heilsamen, sinnlosen Akt gefeiert? „Ich leb‘ nur, wenn Feuer in mir brennt.“ Texter Dr. Bernd Meinunger hatte vorher übrigens noch die Grand-Prix-Heuler „Dschinghis Khan“ und Katja Ebsteins „Theater“ geschrieben. „Rock & Roll“ erzählte also offenbar auch von einer Sehnsucht. Meinetwegen von einer typisch deutschen.
Über eine reine Textanalyse kann man sich dem Begriff Deutschrock natürlich nicht nähern. So sehr der „Rock“ das „Deutsch“ auch adelt, so abwertend scheint das „Deutsch“ im nächsten Moment auf den „Rock“ zurückzufallen. Im Jahr 2008 existiert dieses Genrewort längst nicht mehr, Ende 1980 war es jedoch bitter nötig, um zu erklären, wie Maffay mit dem besagten Album „Revanche“ auf Nummer eins der Charts kommen konnte, 33 Wochen lang unter den Top Ten blieb und im Jahr drauf mit 42 Konzerten und 230.000 Zuschauern einen Tourneerekord aufstellte. Etwas, was er in allen apfelroten Schlagerjahren nie geschafft hatte.
Die durchaus eigenartige, schon bei der Vorgängerplatte „Steppenwolf“ von den Medien verspottete Wandlung Maffays vom Schmeichler zum selbsterklärten Ledermann steht symbolisch für die unwiderbringliche Blüte, die der so genannte Deutschrock in den achtziger Jahren erlebte. Die große Grönemeyer-BAP-Klaus-Lage-Ära, die Zeit von Röhrenhosen und Vokuhila-Haaren, Schweißbändern, Muscleshirts, Saxofonsoli und Berliner Mauer (auf deren Gegenseite auch gerockt wurde, aber das ist eine andere Geschichte). Die erste Phase der Historie, in der Bands aus Köln oder Berlin mit deutschen Texten und einer Musik, die man besten Gewissens als Rock bezeichnen kann, gewaltigen kommerziellen Erfolg hatten; mit E-Gitarren in Hecks „Hitparade“ einrückten, oder eben gerade nicht. Und ebenso geliebt und unübersehbar wurden wie die Spaßsänger Hubert Kah und Roland Kaiser, die Chansonniers Udo Jürgens und Reinhard Mey, die New-Wave-Romantiker Alphaville, die Metal-Szenehelden Accept und Kreator oder die paneuropäischen Kneipenhits des Produzenten Dieter Bohlen.
Dass die Achtziger rückblickend auch als Jahre der Verunsicherung gelten, dass die grummelnde Angst vor Weltkrieg und nuklearen Katastrophen sich in einer bürgerlichen Widerstandsbewegung entlud, wie man sie noch nie vorher erlebt hatte: Auch das spiegelt sich überraschend deutlich in den besagten Songs wider. Und ist wahrscheinlich einer der wichtigsten Gründe dafür, dass am Ende die Platten vergoldet, die Konzerttickets ausverkauft waren. „Deine Innenwelt ist identisch mit der Innenwelt vieler anderer Menschen“, hieß der naive Vorschlag, den der Interviewer des Magazins „Star Club“ im Frühjahr 1981 dem Sänger Maffay machte, und der antwortete: „Das hoffe ich. Das ist meine Brücke.“ Wer mit dieser Arbeitshypothese an den Rock’n’Roll herangeht, bekommt sicher Applaus von denen, die nachts wachliegen und sich Gedanken machen.
Die wichtigen Gestalten von damals sind heute mehrheitlich noch aktiv, spielen für ein repräsentatives Publikum oder erstaunlich große Zahlen von Übriggebliebenen: BAP, Grönemeyer, Maffay, Udo Lindenberg, die Toten Hosen und Ärzte (sie waren in den Achtzigern die frechen kleinen Brüder, aber nicht weniger Deutschrock), Nena, Westernhagen, sogar Heinz Rudolf Kunze und Wolf Maahn. Auch die Scorpions, die in Englisch sangen, weil ihr Deutsch zu schlecht war, und die im Jahr 1991 mit „Wind Of Change“ gewissermaßen den Schlusspunkt der Ära setzten.
Einer Ära, die man nicht zu eng sehen darf. Den Rock hatten vorher sogar schon Cindy & Bert gehabt, die 1970 Black Sabbaths Proto-Metal „Paranoid“ als „Der Hund von Baskerville“ coverten. Selbstverständlich Ton Steine Scherben, die Stones aus dem autonomen Universum Berlins. Die Nürnberger Band Ihre Kinder mit ihrem Jugendgruppensound. Franz K., die Straßenjungs, Westernhagen mit „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“, Lindenberg, der ] 974 mit „Ball Pompös“ bis auf den dritten Platz der Charts geschlendert war. Und später, nach der Wende und dem Ende der vielfach besungenen Eiszeit, Rammstein, Wir sind Helden, Tomte.
Die Charakteristika der Klasse der Achtziger sieht man am besten im Kontrast zu diesen anderen Bands, denen von früher und heute: Ironie irgendeiner Art, chansonhafte Erzählergestik, folkloristische Fantasie gab es praktisch nicht bei den Deutschrockern (dieser Umstand trägt möglicherweise die Schuld daran, dass ihre Platten nicht besonders gut gealtert sind). Auch keinen verklärten Independent-Status. BAP beispielsweise sagten klar, wie sehr sie die Professionalität der großen EMI dem sympathischen Dilettantismus ihres Kölner Urlabels Eigelstein vorzogen. Im Herbst 1982 verdrängten sie dann mit ihrem vierten Album „Von drinne noh drusse“ ihr drittes „Für Usszeschnigge“ von der Spitze, belegten die ersten zwei Plätze der Charts – das wäre mit Indie-Vertrieb damals nicht gegangen. Sex fehlte natürlich auch wieder. Abgesehen von Nena Kerners Achselhöhlen. Und dem Herbert-Grönemeyer-Song „Moccaaugen“ von 1983, in dem der Selbstmörder im Todesmoment immerhin noch einen Orgasmus hat.
Gesinnungsgipfel mit Zwischenspiel in Dur
Seinen bis heute gültigen Ruf als unerbittliche, aber gütige Stimme der deutschen Vernunft erarbeitete Grönemeyer sich eher mit den Stücken der Hitplatte „4630 Bochum“ (die in der Endwertung der bestverkauften Platten des Jahres 1984 hinter Mike Oldfield, Nena und Chris de Burgh lag, aber vor Maffay und BAP). Mit „Jetzt oder nie“ zum Beispiel, einer Art depressiv-bockigem Reggae, in dem der Sänger düstere Bilder von Wasserwerfern, Polizisten und Kuckucksuhr-Wohnzimmern vor sich hin murmelt – um dann den blonden Halbscheitel nach hinten zu werfen, ins Keyboard zu hacken und gellend zu rufen: „Jetzt oder nie, jetzt oder nie mehr, wascht ihr nur eure Autos!“ Kein Generationenkonflikt, sondern ein Gesinnungsgipfel. Mit Zwischenspiel in Dur, in dem Grönemeyer sagt, was hilft: „Es tut so gut, wenn dir die Seele brennt, du auf die Straße rennst und du zeigst, es geht dir nicht gut.“
Die Punks wussten das schon lange, aber die Deutschrocker waren Anti-Punks und mussten auf anderen Wegen zu diesem Ergebnis kommen. Wie ihr Publikum eben auch: „Füllige Mütter mit Marketingproblemen kriegten Kleinmädchenglanz in die Augen, stellungslose Doktoranden der Universitäten des Lebens rangen sich zu anerkennendem Nicken durch“, beobachtete der Schriftsteller Jörg Fauser 1982 bei einem Achim-Reichel-Konzert in Kiel. „Angehörige der öffentlichen Dienste mit besonderer Ausbildung in Berufsverboten kamen ebenso zu ihrer Feierabendekstase wie jene Bürokräfte, die ihren Chef meinten, wenn sie einen Pickel ausdrückten. Ja, tatsächlich, Rock’n’Roll ist Volksmusik geworden in dieser BRD.“
Genau in diese Mitte der Gesellschaft gehörten die Bands. Sie spielten nicht nur für die Kinder in den Großstädten, sondern auch für die Eltern in der Provinz, das sah man schon an den unglaublichen Tourneeplänen. Es müssen ähnliche Leute gewesen sein wie die mehreren, generations- und szeneübergreifenden Hunderttausend, die im Juni 1981 in Hamburg oder vier Monate später in Bonn gegen die atomare Nachrüstung demonstrierten, die das transatlantische Militärbündnis im Nato-Doppelbeschluss verordnet hatte. Ende Oktober 1983 rannten – mit brennenden Seelen – parallel in fünf deutschen Städten über eine Million Menschen auf die Straße, um gegen das Ja des Bundestags zur Stationierung amerikanischer Raketen in Deutschland zu protestieren.
Am 10. Juni 1982, als der US-Präsident Ronald Reagan die damalige Bundeshauptstadt besuchte und sich auf den Bonner Rheinwiesen rund 400.000 Friedensbewegte versammelten, spielten BAP für die Menge. Deshalb nannte Sänger Wolfgang Niedecken seinen nächsten Song „Zehnter Juni“, widmete ihn den Demonstranten und formulierte im turbofeierlichen Refrain das Credo zum zivilen Ungehorsam: „Plant mich bloß nicht bei euch ein“, in Kölsch natürlich, später im Namen aller: „Plant uns bloß nicht bei euch ein / Seit wir euch durchschaut haben, wissen wir, dass wir nicht auf dem allerfalschesten Dampfer sind / Wir haben mit euren Lügen nix am Hut“, mit direkter Überleitung in ein Gitarrensolo, das wie der Sturm auf die Barrikaden klang.
Ein Fäusteballsong, dessen Energie einem auch heute noch die Haare aus dem Gesicht weht. Kein systemkritisches „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, sondern ein Lied über Bürgerrechte. Die Friedensbewegung und die neu gegründete Grünen-Partei brauchten dringend Hymnen, die Musiker wiederum fanden ein Publikum, das sich als Schicksalsgemeinschaft sah, nicht als Freizeithorde.
„Mal ehrlich – wir verdienen alle an der linken Szene“, sagte Herbert Grönemeyer später, in einem „Musikexpress“-Interview im Februar 1989, „Trotzdem kannst du das in Deutschland nicht erzählen, weil wir diese Dinge immer unter dem engagiert-alternativen Deckmäntelchen verstecken.“
Dabei war er natürlich auch dabei, als sich rund 30 Deutschrock-Protagonisten am 13. Juli 1985 auf der Kölner Domplatte versammelten, um als Beitrag zum „Live Aid“-Welthungertag ihren Multistar-Song „Nackt im Wind“ zu spielen. Vorher verlas Udo Lindenberg mit Hut und Pepita-Jackett noch eine gemeinsame Erklärung der Musiker, in der an die Kolonialherrschaft in Afrika und die milliardenschwere Aufrüstung erinnert wurde. Das war wichtig, wenn die Welt über Satellit nach Deutschland blickte. Lindenberg schloss mit den Worten: „Wir lassen uns diesen ganzen Wahnsinn nicht länger gefallen, und wir machen Power!“
„Besuchen Sie Europa, solange es noch steht“
Die Probleme waren ja universell. In den USA hatte der TV-Film „The Day After“ für Aufsehen gesorgt, der die Folgen eines nuklearen Angriffs auf Chicago zeigte, in England schickte die Band Frankie Goes To Hollywood im Video „Two Tribes“ den amerikanischen und russischen Präsidenten gegeneinander in den Boxring. Und in Deutschland sang Nena „99 Luftballons“, eine apokalyptisch-flockige Weltkriegsvision, und kam sogar in den USA auf die Nummer zwei der Charts. Die Bochumer Band Geier Sturzflug machte sich mit „Besuchen Sie Europa (so lange es noch steht)“ einen Spaß aus der Nachrüstung, Heinz Rudolf Kunze berichtete in „Zeitbombe“ über Armeeübungen zum Ausheben von Massengräbern. Sogar die Toten Hosen, die sich bis dahin eher als gesellschaftsferner Gegenpol positioniert hatten, stellten 1986 in „Großalarm“ echte soziale Fragen: „Warum springt hier keiner mehr auf? Warum bleiben alle zu Haus? Warum lehnt sich keiner mehr auf und schreit heraus?“
Als am 26. April 1986 eine Explosion im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl weltweit Alarm auslöste, kam wenige Wochen später Wolf Maahn mit der zugehörigen Single: „0-o-o-oh Tschernobyl, das letzte Signal vor dem Overkill.“ Es wurde sein größter Hit. Und nachdem im oberpfälzischen Wackersdorf die Vorbereitungen für den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage für Atommüll begonnen hatten, stellte ein kleiner Aktionskreis Ende Juli 1986 eines der bis heute größten deutschen Rockfestivals auf die Beine: Rund 120.000 Menschen scharten sich zum „Anti-Waahnsinn“-Spektakel im nahen Burglengenfeld („Rock am Ring“ kommt jährlich auf 80.000), dazu 6.000 bayrische Polizisten und 21 Bands. Rio Reiser, Grönemeyer und Campino von den Toten Hosen sangen gemeinsam Freddys „Heimweh“, Wolfgang Niedecken trug eine gelbe Hose. Udo Lindenberg ließ sich von BAP begleiten, weil das Panikorchester gemeutert hatte: In den Benefiz-intensiven Zeiten weigerten sich seine Musiker, schon wieder ohne Gage zu spielen. Die WAA wurde übrigens nicht gebaut, aber aus anderen Gründen.
Ihr heiliger Ernst, die geschwollenen Stirnadern wurden den Rockern oft vorgeworfen, aber trotz allem ist verblüffend, wie wenig sentimental diese Musik zum Aufbruch und Weltende heute klingt. Wie sie an der Schnittstelle von Hippietum und Sozialdemokratie um wahre Erkenntnis zu kämpfen schien. Und tatsächlich riskierte, am Ende ihrer Reflexionen vor dem Nichts zu stehen. Ausgerechnet mit dem Thema der nationalen Identität und Entfremdung setzten die Künstler sich (mit Ausnahme von Heinz Rudolf Kunze) jedoch kaum auseinander – das kam noch früh genug, als die DDR-Grenze fiel, die Scorpions den „Wind Of Change“ pfeifen ließen, Westbam auf den Trümmern der Berliner Mauer „No More Fucking Rock And Roll“ forderte und die Bands der Achtziger sich plötzlich zähneklappernd auf Festivals gegen Rechstradikalismus wiedertrafen. Weil die großen, verbissen verfolgten Ziele eben doch das Einzige gewesen waren, was diesen Haufen von Burschen mit langem Nackenhaar irgendwie zusammengehalten hatte.
Die guten Fragen, die damals gestellt wurden, können auch die jungen Musiker von heute noch nicht wirklich beantworten. Die singen dann halt ein Duett mit dem alten Lindenberg. Und gut ist.