Mit einer Sammlung verstreuter Kurzgeschichten aus den 50er Jahren zeigt KURT VONNEGUT, dass diese Erzählform beinahe einer Mediation gleichkommen kann
Der sechzehnjährige Kurt kommt von der Schule nach Hause, er ist unbeliebt bei seinen Mitschülern, gelangweilt, das Wetter ist schlecht, also beginnt er in der herumliegenden „Saturday Evening Post“ zu blättern … „Während ich lese, verlangsamen sich Puls und Atmung. Mein Ärger über die Schule fallt von mir ab. Ich befinde mich in einem angenehmen Zustand, irgendwo zwischen Schlaf und Erholung.“ Ein paar Stunden später kommt sein Vater gestresst von der Arbeit „Ich nehme die Zeitschrift und schlage die Geschichte auf. Vater ist müde und deprimiert. Vater fangt an zu lesen. Sein Puls und seine Atmung verlangsamen sich. Sein Ärger fallt von ihm ab, und so weiter.“
Für Vonnegut ist dies der Beweis, „dass eine Kurzgeschichte wegen ihrer physiologischen und psychologischen Wirkung auf den Menschen mit den buddhistischen Meditationsformen näher verwandt ist als jede andere Form erzählerischer Unterhaltung.“ Und insofern habe man mit diesem Buch hier, das seine frühen, Anfang der 50er Jahren in amerikanischen Wochenund Monatszeitschriften erschienenen Erzählungen nun erstmals auf deutsch versammelt („Suche Traum, biete mich. Verstreute Kurzgeschichten“. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt. Hanser Verlag, München/Wien, 253 S. 19,90 Euro), einen ganzen „Packen buddhistischer Nickerchen“. Das ist schön gesagt. Aber damit die Geschichten derartige Wirkungen zeitigen können, müssen sie zunächst mal etwas taugen. Und das tun sie durchaus, wenn auch in unterschiedlichem Grade.
Handelt es sich bei den ersten beiden Geschichten tatsächlich noch um kleine, ein bisschen vorhersehbare und also nicht sonderlich witzige Satiren aus dem Angestelltenmilieu, so erscheint die darauffolgende klassische Gelehrtensatire um den obersten Musiklehrer und Leiter der hundert Mann starken Kapelle der Lincoln High School, George M. Helmholtz, schon weitaus gelungener. Helmholtz, der noch in zwei weiteren Geschichten auftaucht, gibt den genretypischen Fachidioten: „Er hatte so lange gesungen und so heftig um seine Kapellen gebangt, dass sein Leben nur noch in Form von Kapellen stattfand.“
Und am Ende jeder der drei Geschichten macht ihn ausgerechnet einer seiner Schüler auf die eigenen sozialen oder emotionalen Defizite aufmerksam. Diese Texte zeichnen sich aus durch einen leicht skurrilen, angenehm zurückgenommenen, fast verstohlenen Witz, ruhige, schlichte, aber lebenspralle Dialoge, durch die philanthropische Warmherzigkeit, mit der Vonnegut seine Protagonisten zeichnet, und nicht zuletzt den tiefen Ernst, den er für deren Alltagskatastrophen aufbringt. Hier passiert nichts, was die Welt in ihrem Lauf beeinflussen würde, aber Vonnegut lässt keinen Zweifel daran, dass es sich dennoch um etwas Essenzielles handelt.
Noch mehr Triftigkeit bekommen die Kurzgeschichten naturgemäß, wenn es ums Ganze geht, das heißt bei Vonnegut: Wenn der Krieg ins Spiel kommt Ganz grandios etwa die Story vom Veteranen, der wegen einer schweren Verletzung aus der Armee ausscheiden muss und nun ziellos, unglücklich, ohne Selbstvertrauen eine bessere Penner-Existenz fristet, bis er zusieht, wie eine Schulklasse Blumen an dem Gedenkstein eines gefallenen Freundes niederlegt.
Eins leisten diese frühen Brotarbeiten Vonneguts aber vor allem anderen, vielleicht gerade weil sie so konventionell sind: Sie lassen die mythische Kleinstadt Wiederaufleben, den immer wieder kitschig illuminierten, detailpusselig ausstaffierten Sehnsuchtsraum vieler Amerikaner, wie man ihn aus diversen Büchern und Filmen, also ganz genau kennt. Hier hat man ihn noch einmal aus erster Hand: Die Post wird noch selbst abgeholt, und hinter dem Tresen steht natürlich eine ältere lebensfrohe Dame, die gegen ein kleines Schwätzchen selten etwas einzuwenden hat.
Überhaupt haben die Menschen viel Zeit, nicht zuletzt, um auf Tontauben oder Krähen zu schießen. Sie sind nicht überfeinert und wissen ein gutes Steak zu schätzen. Die patriarchalischen Familienstrukturen sind noch nicht vom Emanzipationsgeist aufgeweicht, Kinder tun noch das, was ihre Väter ihnen sagen, und man lebt in einer relativ übersichtlichen, relativ homogenen Gemeinschaft.
Es ist die Anti-Moderne, die in diesen Erzählungen fröhliche Urständ feiert, und die ich mir nur in Schwarzweiß vorstellen kann.