SCHLAGER – Als unverzichtbares Gefühlsgut rehabilitiert
Mit dem erst belächelten Kult um Dieter Thomas Kuhn und Guildo Horn erlebt der SCHLAGER eine Renaissance, die ihn als unverzichtbares Gefühlsgut rehabilitiert
Lange Zeit galt Zuneigung zum deutschen Schlager als sicheres Merkmal geistiger Zurückgebliebenheit. Wer sich zu Paola, Rex Gildo, Bernd Clüver oder Roland Kaiser bekannte, war erledigt – was auch die Produzenten des Metiers begriffen und zur Gegenoffensive bliesen: Tina brlc, Schwester von Mary Roos, sang es trotzig allen Verächtern in ihr schmerzverzerrtes Gesicht: „Wir lassen und das Singen nicht verbieten“.
Der Schmollwinkel ist heute nicht mehr nötig: Altstars treten aus dem Vorruhestand, die Plattenläden holen das deutsche Liedgut wieder aus den Schmuddelecken, Diskotheken und Hip-Gubs richten Schlagerpartys aus oder lassen mit Guildo Horn und Dieter Thomas Kuhn die Zeremonienmeister der Oldieverehrung antreten. Horn, ein stets schwitzender, pointiert stotternder Riesenkobold wird durch Talkshows gereicht, und Kuhn, die „singende Fönwelle aus Tübingen“, spielt in Riesenhallen – für Besucher, die meist keinerlei autobiographischen Bezug zum Abgefeierten haben. Der Boom ist die Marktreaktion auf den Kult der Nachgeborenen, die nicht – wie die Generation vor ihnen – unter der Schlagerseligkeit der Eltern leiden mußten und das Bizarre am Kitsch und Sentiment für sich entdecken. Der Schlager, dieser „Abgesang des ewig gleichen“, wie es Elmar Kraushaar nennt, erweist sich als munteres Element der Alltagskultur. Das hat mit den Irrungen und Wirrungen des Sich-Erinnerns zu tun.
Oftmals sind es die Banalitäten eines Lebens, die wie Leuchtbojen aus dem Fluß der Erinnerung ragen. Dabei strömt der Schlager immer mit. Seine Allgegenwart in Rundfunk, Fernsehen oder Kaufhaus läßt kein Ohr trocken. Wenn Drafi Deutschers Partyhymne „Marmor, Stein und Eisen bricht“ ertönt, wissen Menschen unterschiedlichster Herkunft sofort, was mit diesem (grammatikalisch anfechtbaren) Vers gemeint ist. Um ins Allerheiligste der Musiktruhenewigkeit aufgenommen zu werden, muß man nicht unbedingt überbordende Verkaufszahlen vorweisen. Beileibe nicht immer sind es die kassenstärksten Lieder, die Nachruhm einbringen. Freddy Quinn etwa, da ertönt für die meisten nicht das sechs Millionen Mal verkaufte „Heimweh“, sondern eher Junge, komm bald wieder“ oder „Die Gitarre und das Meer“. Und manchmal – wie „Aber dich gibt’s nur einmal für mich“ der Nilsen Brothers oder „Sierra madre del sur“ von Ronny – wirken Wunschkonzerte und Bierzeltseligkeit auch lebensverlängernd.
Es ist der klassische Topos des Kulturpessimismus, über die sogenannte Schnellebigeit der Moderne zu klagen. Die Beschleunigung des Alltags scheint permanent zu steigen, und die Möglichkeiten, in diesem reißenden Sog Haltepunkte zu erfahren, schwinden. Schlager bieten da eine Chance, sich als Erinnerungszeichen und -melodien zu behaupten. Der große Schlager, der Hit mit Langzeitwirkung, lebt dabei von seinem ambivalenten Spannungsverhältnis zur geschichtlichen Epoche, die ihn hervorbringt. Schlager sind „kollektive Wachträume“, so Wilfried Berghahn, daher aussagekräftige Zeugnisse der Sozial- und Kulturhistorie.
Komponisten und vor allem Texter, weil dem kommerziellen Ertrag verschrieben, müssen sich dem Zeitbewußtsein anschmiegen. Das geschieht manchmal auf direkte Weise, wenn Jupp Schmitz 1949 die Währungsreform mit „Wer soll das bezahlen“ aufgreift, Peter Alexander 1973 mit „Hier ist ein Mensch“ auf den humanitären Zug springt oder Geier Sturzflug 1983 des „Bruttosozialprodukt“ der Achtziger ankurbeln, oder verschlüsselt und enigmatisch, wenn Die Flippers 1969 die Mondlandung in „Weine nicht, kleine Eva“ besingen und Gitte 1974 den Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler mit dem Refrain „So schön kann doch kein Mann sein, daß ich ihm lange nachwein“ kommentiert.
Der aufkeimenden Sehnsucht der Fünziger kamen zahllose Texte entgegen, die in blumig-unverbindlicher Weise Orte besangen, deren Auffindung auf dem Globus sehr schwierig („Der weiße Mond von Marantonga“, „Am weißen Strand von Soerabaya“) oder unmöglich war („Im Hafen von Adano“). Die Rock’n’Roll-Welle schien mit dieser Schnulzenseligkeit aufzuräumen und wurde von Peter Kraus („Sugar Baby“) und Ted Herold („Hula Rock“) flugs für den deutschen Nierentisch gezähmt. Immer häufiger sah sich der Schlager in der Folgezeit genötigt, den aufbrechenden Gesellschaftsstrukturen der (Nach-)60er gerecht zu werden und, in schicklicher Art, die verstörenden neuen Gegebenheiten zu besingen: von unehelicher Partnerschaft (Christan Anders: „In den Augen der anderen“), vom Tod der Flora (Alexandra: „Mein Freund der Baum“) oder der Drogenabhängigen (Juliane Werding: „Am Tag, als Conny Kramer starb“), von Seniorenagilität (Udo Jürgens: „Mit Sechsundsechzig Jahren“), von Orgasmuskoinzidenz (Daliah Lavi: „Oh, wann kommst Du“), von Scheidungskindern (Andrea Jürgens: „Und dabei liebe ich euch beide) oder Pershing-Raketen (Nicole: „Ein bißchen Frieden“).
Trotzdem waren Schlager im akademischen Hort wenig beliebt. Das Profitstreben brandmarkten vor allem ideologiekritisch gestählte Geisteswissenschaftler in den Siebzigern. Theodor W. Adorno resümierte in seiner „Einleitung in die Musiksoziologie“ 1962 das Beklagenswerte der schwarzen Scheiben: „Sie beliefern die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle überhaupt, von denen ihr zeitgemäß revidiertes Ich-Ideal ihnen sagt, sie müßten sie haben.“ Dem Frankfurter Theoretiker folgten viele, und so wurde bald in angestrengten Dissertationen allerhand montiert. Daß die „Frau im Schlager keinen Busen“ habe, daß die Idole „Objekte der kollektiven Triebansprüche des Kaufpublikums“ seien oder man, wie in Peter Maffays „Und es war Sommer“, auf eine „restriktive Darstellung der Frau als Sexualobjekt“ stoße.
Auch aus der Ecke der leicht beleidigten lyrischen Höhenkammkonkurrenz hagelte es Breitseiten: Der Schlager als „verbrecherische Volksverdummung“ (Peter Rühmkorf) mit seinem „miesen Geflecht beschissener Texte“ (Rolf Dieter Brinkmann) galt dem intellektuell ausgewiesenen Brüter nichts. Aber wer die Texte allein als Realitätsvokabeln versteht, wird nie begreifen, was ihren Reiz, ihre Komik und ihr subtiles Potential ausmacht. Der Hit ist Kunstprodukt, seine Absicht ist es, die Zuhörer aus der Wirklichkeit zu entfernen und ein Spiel mit den vertrauten Bausteinen des Täglichen anzubieten. Wahrlich unvergessene Schlager handeln deshalb allein vordergründig vom Sortiment unseres verbürgten Alltags; sie rühren, weil sie Fiktionen im Gewände des Realismus vortragen, an kaschierte Schichten der Psyche, sie benennen Wünsche und Sehnsüchte so offen, wie es sich der ängstliche Zeitgenosse kaum zugesteht.
Schlager bieten verbal und moralisch Bedürftigen eine nicht zu unterschätzende Diensdeistung. Durch sie läßt sich schwer Sagbares sagen, hier erklingen komplizierte Gefühle schlicht. Appelle und Ratschläge kennzeichnen daher viele Texte, Imperative dominieren: „Glaube mir“ von Wolfgang Sauer, „Tanze mit mir in den Morgen“ von Gerhard Wendland, „Du mußt mit den Wimpern klimpern“ von Renate Kern, „Über sieben Brücken mußt du gehn“ von Karat sowie „Beiß nicht gleich in jeden Apfel“ von Wencke Myhre. So erhalten rastund obdachlose Menschen das Gefühl, daß fundamentale Weisheiten auch in sikularisierter Zeit nicht ganz verloren sind. Wo sonst als im Schlager regiert der Trotz zu umfassenden Ausagen, zu Lehrsätzen oder Syllogismen, die nicht vom nörgelnden Zweifel angekränkelt sind? Schlager hören ist Peter Handkes „Kunst der Wiederholung“, das Warten auf das Wiederkehrende, das sich mühelos mitträllern läßt, dessen Reime solide Stützpfeiler bilden und Slogancharakter annehmen.
„Jeder Weg hat mal ein Ende“, erklärte Marianne Rosenberg, Manuela hielt in unübertroffener Klarheit fest: „Schwimmen lernt man im See“, Elfi Graf verdanken wir die Offenbarung „Herzen haben keine Fenster“. Selbst aktuelle Verballhornungen suchen die helfende Sentenz, so wie „Katzeklo, Katzckol. ja das macht die Katze froh“ von Helge Schneidet: Wer etwas sehr allgemein formuliert, also zur Nullaussage tendiert, der erhöht so seine Verbreitungschancen. Während Gerd Böttchers „Für Gaby tu‘ ich alles“ von Damen, die Monika oder Barbara heißen, indifferent erhört wurde, verfolgte der heute gern als Rocksänger apostrophier te Peter Maffay in seinen Anfängen eine vielversprechendere Linie. Sein Schmachtfetzen „Du“ enthält sich klug jeder Zuneigung – und ist als Placebo über Jahre und Frauen hinweg einsetzbar. Oder sein „Du bist anders als all die anderen“ – eine Liebeserklärung, die sich geschickt und tückisch jeglicher Fixierung entzieht: Anderssein ist nicht schlecht.
So läßt der Schlager Sprichwörter und Redensarten gedeihen, eine quicklebendige, zuweilen von unfreiwilligem Witz getragene Alltagspoesie entsteht, die gute Aussichten besitzt, dereinst in Zitatenlexika zu erscheinen. Connie Francis‘ „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“ oder Siw Malmkvists „Liebeskummer lohnt sich nicht“ dürften erste Anwärter sein. Als Gleitöl im Gefühlsleben seiner Konsumenten konzentrieren sich die Aussagen des Schlagers auf konsensträchtige Themen: auf Liebesleid und Liebesglück. Fleißige Wissenschaftler zählten vor gut 20 Jahren den Schlagerwortschatz aus und kamen zu der bahnbrechenden Erkenntnis, daß die Vokabeln „du“, „sich“, „nicht“ und „wir“ am häufigsten vorkommen, folglich der Titel „Du und ich, wir lieben uns nicht“ Idealgestalt aufwiese.
Um so verlockender und couragierter scheinen dann Lieder, die in den drei bis vier Minuten Spielzeit kleine Balladen und zugespitzte Dramen präsentieren. Wozu ein Romanautor Hunderte engbedruckte Seiten, Stückeschreiber fünf ausholende Akte benötigen, das führt der gewiefte Texter auf einen leicht faßlichen Kern zurück. Marianne Rosenberg, die Ikone der Schwulenszene, erzählt in „Marleen“ von der gewöhnlich debattenund tränenreichen Auseinandersetzung zweier Frauen, die denselben Mann begehren. Anstatt umständlich das Für und Wider abzuwägen, klärt die Interpretin gleich zum Auftakt des mit schneidender Schärfe: „Marleen, eine von uns beiden muß nun gehn. Marleen, drum bitt‘ ich dich: Geh du, Marleen“. Auch Christian Anders, dem unvergleichlichen Melancholiker, gelang es immer wieder, Beziehungsdebakel auf bündige Weise zu entwirren. In „Einsamkeit hat viele Namen“ ist zu hören: „Ich hab‘ gesagt: ,Geh, wenn du willst.‘ Darauf bist du gegangen. Ich hab‘ gesagt: ,Mir ist es gleich.‘ So hat es angefangen.“ Das ist dramaturgisch sauber gebaut. Andere bedeutsame Lieder verwirren dadurch, daß ihr Sinn schwer zu verstehen ist. Wer vermag zu sagen, welches romantische Zauberwort Margot Eskens uns mit „Tiritomba“ nahebringen möchte? Niemand, und das machte sie so schaurig schön.
Nach dem Einbruch der Neuen Deutschen Welle in die „ZDF-Hitparade“, jenem Tempel des Schlagers, und dem Abgang ihres Hohenpriesters Dieter Thomas Heck wollte man den Schlager zeitgemäß verjüngen. Aber der gegenwärtige Schlagerkult nährt sich nicht zuletzt aus der Haßliebe zu seinen Bühnenrepräsentanten, gerade auch bei den Jüngeren. Die und wir wollen sie nicht missen, die Accessoires, die Attitüden und Skandale, wie lieben Nana Mouskouris Hornbrille, Rex Gildos Perlweißglanz, Howard Charpendales offenes Hemd, Peter Alexanders Topfenstrudellächeln, Udo Jürgen’s Potenz, Cindys Bert, Heinos Blondhaar, Roland Kaisers Szenen vieler Ehen oder Claudia Jungs kleines Schwarzes.
Die Schlagerszene zeigt, daß alles mehr als möglich ist. Und zuweilen schleicht sich gar ein bestürzender Moment eklatanter Selbsterkenntnis ein, wenn sich die Größen des Genres auf ihr Wirken besinnen. Freddy Quinn, der bürgerlich Franz Eugen Helmuth Manfred Nidl-Petz heißt, sinnierte: „Ich gebe es zu, daß meine Lieder beim Zuhören oft eine nachdenkliche Stimmung erzeugen, vielleicht sogar traurig machen. Ich war im Leben oft allein und deshalb oft traurig. Natürlich will ich aus dieser Traurigkeit keinen Kult machen. Ich weiß genau, daß es nicht glücklich macht, allein zu sein. Aber ich weiß auch, daß die Traurigkeit an Bitternis verliert, wenn sie einmal ausgesprochen oder in einem Liede zum Klingen gebracht wird.“
Augen zu, CD rein – „Vergangen, vergessen, vorüber“ von Freddy.