Mister Dazwischen
Ferry, das Forschungsobjekt: Warum nur beschäftigen sich Popwissenschaftler so gern mit Roxy Music?
Das ist eines der Geheimnisse des Pop: Jeder kann mitreden, nicht nur die sogenannten Experten. Fast alle kennen die Superstars oder die next big things von morgen, ob aus der Fachzeitschrift, der Tageszeitung, dem Blog oder dem Mund guter Freunde. Und doch lässt sich, wenn man die Lyrics, Klänge und Bilder richtig liest, eben auch tiefer bohren, analysieren. Man kann Systeme erkennen, mitunter sogar eine Kritik an Pop, Medienkultur und Gesellschaft aus ihnen ableiten, die über wohlfeilen Kulturpessimismus hinausgeht.
Gerade Bryan Ferry und Roxy Music sind ein exzellentes Beispiel dafür, wie viel Information und Potenzial für Popforschung im besten Fall hinter einer einzigen Band stecken kann. Die man zwar zwecks Analyse sezieren kann, die aber trotzdem immer als Gesamtphänomen wirkt.
Zentrum der Betrachtung bleibt dabei die Musik selbst. Schon hier findet man in der Popmusikgeschichte sowie quer durch die unterschiedlichsten Stile viele Verweise auf Ferry und die Band: Der Song „2HB“ vom Roxy-Debütalbum taucht zum Beispiel auf der 2009 von Underworld konzipierten Compilation „Anthems“ auf (neben Squarepusher, Soft Machine oder Osunlade), „Bitter Sweet“ vom Album „Country Life“ auf dem Soundtrack zu „Contact High – Auf den Hund gekommen“ von Regisseur Michael Glawogger, einer österreichisch-polnischen Slacker-Road-Movie-Komödie von 2009. Die Strahlkraft der Gruppe reicht offensichtlich in sehr verschiedene popkulturelle Gefilde, Roxy Music und Ferry selbst coverten etwa Neil Young, die Byrds oder Wilson Pickett, hatten mit „Jealous Guy“ von John Lennon sogar ihren einzigen Nummer-eins-Hit. Gecovert wurden Roxy Music unter anderem von Grace Jones, Tin Machine, Siouxsie & The Banshees, Mudhoney, Norah Jones, Frank Black oder The Divine Comedy.
Der Klang, die Songs, aber eben immer auch der Gesamteindruck von Roxy Music dürften zudem entscheidenden Einfluss ausgeübt haben auf New Wave und Synthie-Pop à la Depeche Mode, Ultravox, Visage oder Duran Duran. Selbst ein eher reserviert und gestanden erscheinender Mann wie Dieter Meier von Yello outete sich in der sehenswerten Folge der Arte-Doku „Durch die Nacht mit …“ 2004 beim Treffen mit Ferry beinahe hemmungslos als großer Fan. Brian Enos ambienter, teils orchestraler Sound, vor allem seine Produktionen für David Bowie haben außerdem spacige Bands wie die Flaming Lips, Spiritualized oder Sonic Boom und jüngere Bands wie Tunng, Of Montreal oder Scissor Sisters inspiriert und finden immer wieder ihren Weg auf Compilations.
Kein Wunder, dass auch die sogenannte New New Wave der Nullerjahre in Sound und musikalischer Attitüde so viel Spaß am Stil von Roxy Music gefunden hat. Zur neuen Single „You Can Dance“ von Ferry tanzen verschiedene Generationen und Kontinente, nicht zuletzt angeregt durch die wechselseitige Kooperation mit DJ Hell. Auf dem neuem Album „Olympia“ wirken Musiker unterschiedlichster Altersgruppen mit: David Gilmour, Nile Rodgers, Flea oder Groove Armada. Sogar die Roxy-Originale Eno (der mit „Small Craft On A Milk Sea“ auf Warp Records ebenfalls gerade ein neues Album vorlegt), Manzanera und Mackay sind dabei. Der popmusikalische Wert von Roxy Music könnte kaum besser belegt werden: Hier wird die höchste Kunst des Zitierens zelebriert.
Zusätzlich zu Songs, Attitüden und Einflüssen zählen bei Roxy Music immer auch die visuellen Eindrücke, der Look der Musiker, das Produktdesign. Die meisten Cover wurden von zur jeweiligen Zeit angesagten Models dominiert, an denen man Modegeschichte und Pop beschreiben kann. Zudem löste „Country Life“ von 1974, dessen berühmte Plattenhülle zwei in durchsichtigen Dessous gekleidete Mädchen zeigt, Diskussionen und Verbote aus – 36 Jahre später erscheint der Skandal als modehistorische Episode. Aber auch dieses Cover wird immer wieder von anderen Musikern zitiert, etwa 2002 vom englischen Electro-Duo Robots In Disguise für die Single „Boys“ oder von der amerikanischen Indie-Rockband Sweet Apple (um J Mascis) für deren aktuelles Album „Love & Desperation“.
Ein Grund für die vielfältigen Verweise und Verflechtungen ist sicher: Roxy Music bewegen sich seit ihrer Gründung in einem spe-ziellen pophistorischen „Dazwischen“. Zwischen Rock’n’Roll, Progressive- und Art-Rock, zwischen Glam und Punk-Rock, zwischen Soul und Disco. Die Band hat sich stets postmodern und schamlos bei anderen bedient und aus den Fragmenten etwas Eigenes kreiert – was wiederum andere dazu ermutigt hat, sich ihrerseits an sie anzulehnen. An all diesen Knotenpunkten kann der Popforscher einsteigen.
Auch was Geschlechterfragen angeht, saß die Band immer zwischen den Stühlen. Wegen der Model-Fotos warf man ihr zwar oft Sexismus und Chauvinismus vor. Gleichzeitig galt sie wegen der modisch-gepflegten Haltung, dem teils kostümiert-androgynen Auftreten und Ferrys affektierter, eher sanft gehauchter Stimme in der machogeprägten Rockmusik der Siebziger als nicht besonders männlich und eher experimentell. Auch zwischen Rock’n’Roll und Kunst, zwischen britischer Arbeiterherkunft und erwachsenem Hochkultur-Interesse kann man Ferry verorten, der nicht nur Kunst studiert, gesammelt und mittlerweile ausgestellt hat, sondern selbst zur Mode- und Gestaltungs-Ikone und zum Rockmusiker im Designeranzug geworden ist. Sein Freund Nicky Haslam meinte einmal, Ferry würde auf Tour eher ein Hotelzimmer umgestalten und neu dekorieren als es verwüsten.
Ferry und Roxy Music sind also nicht nur ein äußerst vielschichtiges Phänomen, sondern geradezu ein Konzept populärer Kultur. Ob man sie nun mag oder nicht – an der Band, ihren Figuren, ihren Texten und Kontexten lassen sich unzählige popmusikalische Infos ablesen und diskutieren, gesellschaftliche Zustände beleuchten. Ob daraus eines Tages sogar eine eigene wissenschaftliche Disziplin, etwa die „Roxy Pop Studies“ entstehen, kann hier nicht entschieden werden. Den Fab Four ist es ja bekanntlich mit dem Masterstudiengang „The Beatles, Popular Music and Society“ an der Universität Liverpool zum Wintersemester 2009 gelungen, vollständig akademisiert zu werden.
Christoph Jacke ist Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik an der Universität Paderborn. Zuletzt erschien von ihm „Einführung in Populäre Musik und Medien“ (LIT-Verlag, 29,90 Euro).