Miles Davis: Die letzten Jahre und der Tod einer Ikone
Miles Davis prägte die Geschichte des Jazz wie kaum ein anderer. ROLLING STONE blickt auf sein Leben und seine letzten Tage zurück.
Beinahe kann man die letzten Jahre im Leben von Miles Davis mit denen von Henri Matisse vergleichen, mit Pablo Picasso der wohl größte französische Künstler des 20. Jahrhunderts. Mitte der 1940er Jahre, Matisse war bereits über 70, arbeitete der Maler und Bildhauer an einer Sammlung von Scherenschnitten. Dem schwerkranken und körperlich eingeschränkten Mann erleichterte die Technik die künstlerische Arbeit. Inspiriert von der Improvisation trug das Ergebnis den passenden Namen „Jazz“. An seinem Lebensende schlug er damit nochmals neue Wege ein, erkundete die Grenzen seines Ausdrucks und verschob sie damit bis zum Schluss. Was zunächst als weniger gelungenes Werk galt, zählt heute zu den wertvollsten Arbeiten der modernen Kunstgeschichte.
Als Miles Davis 1981 aus dem musikalischen Exil zurückkehrte, war auch er von Krankheiten gezeichnet. 1975 musste er nach einem Konzert in St. Louis mit blutenden Magengeschwüren ins Krankenhaus eingeliefert werden, wenig später entfernte man 18 Polypen aus seinem Kehlkopf. In den folgenden sechs Jahren rührte er kaum ein Instrument an, dafür umso mehr Alkohol und Kokain. Davis war gefangen zwischen der Sucht und dem künstlerischen Burnout, denn an der Trompete hatte er nichts mehr zu sagen.
Zwischen Grammys und Verissen
Aufgefangen wurde Miles Davis von Cicely Tyson, Schauspielerin, bereits in den 60ern seine Geliebte und ab 1981 seine Ehefrau. Er begann wieder zu arbeiten und nahm mit Marcus Miller und Bill Evans „The Man with the Horn“ auf. Das Album traf auf verhaltene Reaktionen. Man rümpfte die Nase über den deutlichen Einfluss von Rock, Pop und Funk, obwohl Miles Davis selbst zu einem traditionelleren Trompetenstil zurückkehrte. Der überbordende Einsatz von Effekten auf seinem Instrument, den man bereits von ihm gewohnt war, gehörte zwischenzeitlich der Vergangenheit an. Zusätzliche Rückschläge ereilten ihn durch den anhaltenden körperlichen Verfall. Ein Schlaganfall 1982, eine Hüftoperation und eine Lungenentzündung im Jahr darauf.
Doch Miles Davis ließ sich nicht beirren. Auf „Star People“ (1983) und „Decoy“ (1984) experimentierte er weiter, auf letzterem vor allem mit elektronischen Klängen. Gitarrist John Scofield war mittlerweile zu seiner Band gestoßen, wenig später außerdem Darryl Jones am Bass, der 1993 Bill Wyman bei den Rolling Stones ersetzen sollte. Es war eine Zeit der Gegensätze. Und des Übergangs. Einerseits gewann Miles Davis 1983 einen Grammy für das Live-Album „We Want Miles“, andererseits trennten sich ab „Decoy“ die Wege mit seinem langjährigen Produzenten Teo Macero, während das Album von der Kritik zerrissen wurde. Auf „Decoy“ übergab Miles Davis zunehmend einen Großteil des kreativen Prozesses an jüngere Musiker, die er förderte. In der Öffentlichkeit bezahlte er dafür einen hohen Preis.
„You’re Under Arrest“ (1985) war schließlich die Essenz des vermeintlichen Widerspruchs aus teils herber Kritik aus dem Feuilleton und äußerst erfolgreichen Verkaufszahlen. Mit Cyndi Laupers „Time After Time“ und Michael Jacksons „Human Nature“ fanden sich zwei Interpretationen von Popsongs auf dem Album, die von besonders hartnäckigen Jazz-Puristen missbilligt wurden. Viele Jazz-Standards seien nicht mehr als Popversionen von Broadway-Stücken, entgegnete Miles Davis trocken.
Miles Davis Abschied von Columbia Records
Nach „You’re Under Arrest“ kam es zum Bruch mit Columbia Records. Das offensive Werben für den jungen Trompeter Wynton Marsalis missfiel mit dem eitlen Davis, der sich darüber hinaus den Vorwurf von Marsalis gefallen lassen musste, seine Musik sei bei all den Experimenten kein „echter Jazz“ mehr. Das Desinteresse von Columbia an „Aura“, ein Album, das zwar schon 1984 entstand, jedoch erst fünf Jahre später über Warner Bros. veröffentlicht wurde, brachte für Miles Davis das Fass zum Überlaufen. Bei Warner Bros. setzte er seine durchgängige Neuerfindung fort.
„Tutu“ (1986), das erste Album auf dem neuen Label, beheimatete erstmals programmierte Synthesizer, Drumcomputer und Samples auf einem Miles-Davis-Album. So etwas wie ein „jetzt erst recht“ gegenüber den Hardlinern des „echten Jazz“, könnte man meinen. Der Gewinn eines weiteren Grammys sprach dabei für sich.
Besonders interessant ist allerdings, dass „Tutu“ auf den ersten Blick beinahe vollkommen Marcus Miller zuzuschreiben ist, der die meisten Instrumente spielte, sechs der acht Songs schrieb, die Stücke arrangierte und co-produzierte. Miller hingegen sagte, er hätte die Songs niemals so geschrieben, wenn sie nicht für Miles Davis gewesen wären, der sie durch seine Trompete vervollständigte. Abermals kamen die Vertreter der ungeschriebenen Jazz-Konventionen aus den Ecken, die dem Spiel über vorgefertigte Tracks nichts abgewinnen konnten. Sie vergaßen dabei kurzerhand, dass Davis schon in den 50ern mit Gil Evans auf die Weise gearbeitet hatte, wenn auch mit akustischen Instrumenten.
Von Anfang an gegen den Strom
Nicht das zu tun, was alle anderen tun, war eine frühe Lektion in Miles Davis Leben. Als Sohn eines Zahnarztes und einer Musiklehrerin wuchs er in vermögenden Verhältnissen auf, insbesondere für einen afroamerikanischen Haushalt im zutiefst vom Rassismus zerfressenen Amerika des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts. Die Familie wohnte in East St. Louis, Illinois. Ein vergleichsweise liberaler Fleck auf der braunen Landkarte der USA jener Zeit. Erst auf der Highschool kam Miles Davis das erste Mal substanziell mit rassistischen Ressentiments in Berührung. Bei ihm greift es nicht, das Klischee des darbenden Jazz-Musikers.
Für seine Familie konnte er gewiss nichts, anders als die gewissenhafte Umsetzung des Rats, den er als Teenager von seinem Trompetenlehrer Elwood Buchanan erhielt. Nicht so viel Gewicht auf das Vibrato in seinem Spiel zu legen, prägte den jungen Miles Davis und grenzte ihn vom üblichen Trompeten-Stil der 30er- und 40er-Jahre ab.
Raus aus der Enge
1944 ging er nach New York. Oberflächlich, um an der Juilliard School of Music zu studieren, doch eigentlich suchte er in den Clubs der Stadt nach Dizzy Gillespie und Charlie Parker. Das Studium schmiss er bald, und das ebenfalls aus Gründen, die maßgeblich für sein gesamtes Leben sein sollten: es war zu eng, zu sehr von vermeintlichen Dogmen geprägt und zu „weiß“. Davis Biograph Quincy Troupe zitiert ihn mit den Worten:
„Ich erinnere mich noch an einen Kurs in Musikgeschichte. Die Lehrerin war eine Weiße. Sie stand vor der Klasse und erklärte, dass die Schwarzen den Blues spielen, weil sie arm sind und Baumwolle pflücken müssen. Deshalb seien sie traurig und daher käme der Blues, von ihrer Traurigkeit. Meine Hand schoss hoch wie der Blitz, ich stand auf und sagte: ‚Ich komme aus East St. Louis und habe einen reichen Vater, er ist Zahnarzt. Ich spiel aber auch den Blues. Mein Vater hat in seinem ganzen Leben keine Baumwolle gepflückt und ich bin heute früh kein bisschen traurig aufgewacht und hab dann einen Blues gespielt. Da steckt schon ein bisschen mehr dahinter.‛ Die Tante wurde richtig grün im Gesicht und sagte kein Wort mehr. Mann, was die uns erzählt hat, kam aus einem Buch, das muss einer geschrieben haben, der keine Ahnung von dem hatte, worüber er sich ausließ.“
Die Todesursache von Miles Davis
Dieses konstante Ausloten des Machbaren, die Neudefinition von Geschmack und Gewohnheiten sind die wesentlichen Hinterlassenschaften von Miles Davis für den Jazz und die Musik im Allgemeinen. Als Hörender kann man ihm dafür nur dankbar sein. Der Vergleich mit dem großen Matisse hinkt also nicht, denn sich im fortgeschrittenen Status ihrer Laufbahn über die Erwartungshaltungen hinwegzusetzen, vereint beide in ihrem Schaffen. Die fast schon kindliche Rückbesinnung auf das Ausprobieren beschert uns heute einige der spannendsten Platten der 80er-Jahre, auch wenn sich sein Schöpfer zuweilen die Finger daran verbrannt hat. Mehr noch als die Ergebnisse selbst imponiert das Folgen des Instinkts auf dem Weg zur künstlerischen Befriedigung.
Was Miles Davis in einem längeren Leben noch vollbracht hätte, bleibt Spekulation. Am 25. August 1991 spielte er in Los Angeles sein letztes Konzert, bevor er sich Anfang September aufgrund seiner zahlreichen Beschwerden im Krankenhaus in Santa Monica untersuchen ließ. Dass er ein ausgesprochen unangenehmer Mensch sein konnte – rechthaberisch, gemein, launisch –, bekam auch der behandelnde Arzt zu spüren, mit dem Davis in einen heftigen Streit geriet. Er erlitt einen Schlaganfall und fiel ins Koma. Am 28. September entschied seine Familie schließlich, die Lebenserhaltenden Maschinen abstellen zu lassen. Miles Davis wurde 65 Jahre alt.