Michel Legrand im Interview: „Die Jazz-Giganten sind tot“
Im Gespräch mit ROLLING STONE sprach Michel Legrand über seine Musik und die der Kollegen. Eine Erinnerung an den großen Komponisten.
Im Laufe seiner Karriere mit drei Oscars ausgezeichnet, zählte Michel Legrand zu den größten Soundtrack-Komponisten. Der Franzose schrieb mehr als 200 Scores, darunter für „Yentl“, „The Thomas Crown Affair“, „Summer Of ’42“ und „Les parapluies de Cherbourg“. Seine Songs, wie „What Are You Doing The Rest Of Your Life?“, haben den Pianisten auch unter Pop-Hörern bekannt gemacht, sein erstes Nummer-eins-Album in den amerikanischen Charts feierte der Franzose bereits 1954 mit „I Love Paris“. Da war er gerade einmal 22 Jahre alt.
Michel Legrand spielte und nahm mit vielen Jazz-Größen auf, darunter Miles Davis, John Coltrane, Ella Fitzgerald, Bill Evans, Aretha Franklin, Stan Getz, Ray Charles und Frank Sinatra. ROLLING STONE sprach mit Legrand vor seinem Tod im Jahr 2019 im Jahr 2015 am Telefon.
Ein Archivstück vom November 2015:
Michel Legrand: „Die Jazz-Giganten sind tot“
ROLLING STONE: Am Vorabend unseres Gesprächs (13. Oktober 2015) traten Sie in Paris bei einem Konzert ihres Freundes Charles Aznavour auf: „Toi mon frére“, eine Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer des Holocaust und des Völkermords an den Armeniern 1915. Sehen Sie sich als politischen Musiker?
Michel Legrand: Das war ein wichtiges Konzert für mich. Und es ist bedeutsam, dass auch die türkische Regierung den Genozid an den Armeniern als solchen bezeichnet. Ich bin armenischer Abstammung, die Familie meines Großvaters wurde damals ausgelöscht. Bitte lassen Sie uns über etwas anderes, etwas Positives sprechen.
ROLLING STONE: Im November kommen Sie für ein Konzert nach Berlin …
Legrand: Ja! Ich bin noch nie hier aufgetreten. Für mich wird das ein besonderes Konzert. Es gab drei schreckliche Kriege, in denen Frankreich und Deutschland Gegner waren, innerhalb eines Jahrhunderts. Auch dank der Vereinigung in der Europäischen Union ist die Freundschaft zwischen diesen Ländern größer geworden.
ROLLING STONE: Welche Ihrer Stücke werden Sie spielen?
Legrand: Das weiß ich noch nicht. Ich werde das entscheiden, sobald ich in Berlin angekommen bin.
ROLLING STONE: Sie hatten Chansons und Jazz als Soundtrack für Hollywood-Filme populär gemacht. Die Scores heutiger Produktionen klingen alle gleich: Bombast mit Trommelwirbeln und ins Leere zielenden Streichern.
Legrand: Das stimmt. In den 1970er und 1980er Jahre war Hollywood offener, in jenen Jahrzehnten wurden definitiv bessere Scores aufgenommen. Es war eine tolle Ära. Große Filme, die große Soundtracks erforderten. Die Musik zu den heutigen Filmen bietet einem nichts. Nichts, an dem man Freude haben könnte. Nichts Neues, nichts Wichtiges. Nichts Herausforderndes. Eine traurige Zeit.
ROLLING STONE: Sie schrieben auch für Werke, die man nicht unbedingt von Ihnen erwartet hätte. Zum James-Bond-Film „Sag niemals Nie“ (1983) etwa oder für den Sci-Fi-Streifen „Predator 2“ (1990).
Legrand (lacht): Als Filmkomponist muss man in der Lage sein, zu jeder Art Geschichte einen Score zu kreieren. Happy, Sad, Action-lastig, alles.
ROLLING STONE: Wie intensiv sprechen Sie mit den Film-Produzenten vor Ihrer Arbeit?
Legrand: Ich höre nicht auf das, worum die Produzenten mich bitten. Deren Ideen sind meistens nicht so gut. Ich höre nur auf mich selbst.
ROLLING STONE: Wie oft müssen Sie heute noch Nein sagen zu Anfragen aus Hollywood?
Legrand: Viele, viele Male habe ich Nein sagen müssen. Beim Musical entsteht die Musik ja parallel zur Handlung. Beim Film möchte ich aber schon vorab Einblicke haben.
ROLLING STONE: Französische Musik aber ist in der Traumfabrik bis heute nicht wieder populär geworden.
Legrand: Aus der älteren Garde französischer Soundtrack-Komponisten gibt es ja nur noch mich.
ROLLING STONE: Mit „Birdman“ und „Whiplash“ erhielten zuletzt zwei Filme Oscar-Nominierungen, in denen Jazz eine Rolle spielt.
Legrand: „Whiplash“ war sehr interessant, er hat mir gefallen. Aber ich bin nicht der Ansicht, dass der Schlagzeug-Professor in dem Film richtig gehandelt hat. Man kann das Erlernen von Jazz so nicht forcieren, den Schüler nicht so behandeln. Aber der Film ist wunderschön gemacht, und der Erfolg tut dem Jazz gut.
ROLLING STONE: Wie unterscheidet sich Ihre Herangehensweise beim Komponieren von Scores gegenüber Nicht-Soundtracks?
Legrand: Ich mache da keine Unterschiede. Die Musik für Filme muss für sich stehen können, wie ein klassisches Stück. Das Geschehen auf der Leinwand muss man dennoch im Auge behalten. Ich will der Handlung dienen, den Schauspielerinnen und Schauspielern.
ROLLING STONE: 1954 feierten Sie mit „I Love Paris“ Ihr erstes Nummer-eins-Album in den amerikanischen Charts.
Legrand: Ich war damals 22. Zu der Zeit konnte ich noch gar nicht absehen, dass meine Karriere so gut weiter verlaufen würde. Ich war einfach nur glücklich.
ROLLING STONE: Einer ihrer bekanntesten Songs, für den Sie auch einen Oscar erhielten, war „Windmills Of Your Mind“ aus dem 1968er-Film „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ …
Legrand: Ach, ich würde den gar nicht favorisieren. Man mag seine verschiedenen Kinder aus verschiedenen Gründen.
ROLLING STONE: Stört es Sie, dass dieses Lied oder andere als „Easy Listening“ bezeichnet werden?
Legrand: Die Leute denken oder sagen, was sie wollen. Wieso sollte mich das stören? Ich erarbeite solche Kategorien ja nicht. Ich mag meine Musik, ich mag mein Leben.
ROLLING STONE: Sie betonen stets, dass Sie auch im Jazz noch dazulernen möchten. Was etwa?
Legrand: Meine Neugierde ist grenzenlos, ich könnte das, was ich mache, sonst nicht machen. Komponieren steht bei mir an erster Stelle, dann kommen die Arrangements. Ich will etwas erschaffen. Ich bin Student, kein Professor.
ROLLING STONE: Setzen Sie sich heutzutage noch ans Klavier und lernen Songs?
Legrand: Nein, denn ich möchte die Musik anderer Komponisten nicht mehr spielen. Ich will klassische Stücke komponieren, die ich lerne und dann dirigiere. Zuletzt arbeite ich an zwei verschiedenen, ein Konzert fürs Cello, bereits in Frankreich aufgeführt, und eines fürs Klavier, das spiele ich selbst. Das wird im Mai 2016 in Philadelphia mit Orchester uraufgeführt.
ROLLING STONE: Sie arbeiteten mit Miles Davis zusammen, Coltrane, Stan Getz … welche war die wichtigste Erfahrung, die sie aus den Kooperationen gezogen hatten?
Legrand: Nun, meine Vorstellungskraft ist ja schon groß. Aber als Miles anfing zu spielen, musste ich 30, 40, nein 50 verschiedene Schritte vorausdenken, was er wohl als Nächstes tun würde. Und er hat immer, immer etwas gespielt, was ich so noch nicht von ihm gehört hatte. Er und die anderen von Ihnen genannten waren Genies. Was für eine außerordentliche Freude es war, mit ihnen zu spielen. Ich vermisse sie alle. Die Giganten sind tot. Es gibt heute viele herausragende, junge Jazzmusiker. Aber ich warte immer noch darauf neuen Genies zu begegnen.
ROLLING STONE: Vielleicht haben sich die Jüngeren auch verstärkt der Elektronik zugewandt, arbeiten mit Computern …
Legrand: Ja, Ja. Aber das ist doch Bullshit. Ich hasse Computer, ich hasse diese Maschinen. Musik kommt aus dem Herzen, nicht aus einer Maschine. Wie ich den Sound daraus hasse. Ich werde niemals mit einem Computer arbeiten.
ROLLING STONE: In welche Richtung könnte sich Jazz entwickeln, wie wird er in zehn Jahren klingen?
Legrand: Das weiß ich nicht. Aber es wird immer Jazz geben, so wie es immer gute Musiker geben wird.