Michael Stipes erstes Interview nach der Trennung von R.E.M.
Für ROLLING STONE blickte Michael Stipe 2014 nach der Trennung von R.E.M. lieber nach vorn als zurück – und erzählte, dass er jetzt ausschließlich für sich arbeite.
Seit September 2011 hat man nicht viel gehört von Michael Stipe. Gesehen hat man ihn schon: bei Patti-Smith-Konzerten, in Berliner Galerien und Bars, bei der New Yorker Fashion Week und einmal auch in einem Raum mit seinen ehemaligen Kollegen – ausgerechnet in Athens/Georgia, wo 1980 die Weltkarriere von R.E.M. begann. Im November 2013 sprangen Bassist Mike Mills und Schlagzeuger Bill Berry im kleinen 40 Watt Club auf die Bühne, um mit Gitarrist Peter Buck „(Don’t Go Back To) Rockville“ zu spielen. Stipe stand etwas abseits im Publikum und sah zu. Das Verlangen mitzumachen hatte er nicht.
Selbst enge Vertraute der Band waren überrascht, dass Stipe sich bereit erklärte, für unsere Jubiläumsausgabe mit einem Heft zu posieren (wobei er spontan noch etliche Bilder in die Hand nahm, die in seinem Atelier standen und ihm wichtig sind) und sogar ein Interview zu geben. Mit der Vergangenheit scheint er komplett abgeschlossen zu haben. Wir erlauben uns dennoch einen kleinen Rückblick. Als R.E.M. sich am 21. September 2011 auflösten, war das nicht weniger als eine Sensation: Wann hat sich je eine weltberühmte Band getrennt, solange sie problemlos große Hallen füllt, während ihre Hits, wie „Losing My Religion“, immer noch im Radio laufen und alle Musiker sich gut verstehen?
AmazonR.E.M.: Friedlich getrennt – oder doch nicht?
Zum letzten Mal sprachen wir mit Stipe und Mills im Januar 2011 in New York, kurz vor der Veröffentlichung ihres 15. Studioalbums, „Collapse Into Now“. Ihr Plattenvertrag lief aus, eine Tournee war nicht geplant – alles wirkte offen. Als Überschrift wählten wir ein Zitat des Bassisten: „Wir können alles machen – oder nichts.“ Im Herbst entschied die Band sich überraschend für die zweite Variante: „R.E.M. call it a day“, verkündeten sie auf ihrer Website. Alles erreicht, alles friedlich. Nach 31 Jahren, 5 Monaten und 16 Tagen wollten sie einfach mal was anderes machen.
Seitdem scheint Stipe verstummt. Vor zwei Jahren sang er mit Chris Martin beim Hurrikan-Sandy-Benefiz in New York, ansonsten setzt er seine Stimme kaum ein. Das Soloalbum, das Mills 2011 versprach, lässt weiterhin auf sich warten, dafür hat Buck schon zwei veröffentlicht. Beide spielen beim Baseball Project mit, wie auch R.E.M.-Tourgitarrist Scott McCaughey. Buck hilft nebenbei noch bei den Decemberists aus, schreibt und spielt mit The Minus 5 und Tired Pony. Langweilig wird wohl keinem der drei. (Schlagzeuger Bill Berry hatte sich schon 1997 von der Band verabschiedet, um fortan als Farmer ein gemütlicheres Leben zu führen.)
Nun ist Stipe und probiert seit drei Jahren aus, wie sich das Erwachsenenleben anfühlt, wenn man kein Teil einer Rockband ist. Er war gerade 20, als R.E.M. anfingen – ein unsicherer Teenager, der die Haare ins Gesicht fielen ließ, um seine Akne zu verdecken. Er konnte singen wie kein anderer, ein Showman war er nicht. Das lernte er langsam, während seine Band immer größer wurde. Ihr Einfluss auf den Alternative-Rock der 80er- und 90er-Jahre ist kaum zu überschätzen: R.E.M. zeigten, dass man es ohne Kompromisse weit bringen kann. Sie fabrizierten seltsame Videos. Sie weigerten sich, ihre Gesichter auf LP-Covers abzubilden oder Privates preiszugeben. Sie gingen nicht auf Tournee, als „Automatic For The People“ ein Welterfolg wurde. Stattdessen schlossen sie bald darauf einen Millionendeal ab – und ließen sich auch weiterhin nichts sagen. Ihre künstlerische Freiheit war unantastbar. Kurt Cobain nannte sie „Heilige“.
Bestimmt war nicht alles so einfach, wie es schien. Ganz sicher gab es Streitereien, und manchmal machten sie auch etwas falsch. (Mir fällt nur gerade kein Beispiel ein.) Trotzdem hinterlassen sie ein fast makelloses Vermächtnis – was nicht zuletzt daran liegt, dass sie sich nie so ganz in die Karten schauen ließen. Produzenten oder Manager wurden verabschiedet, keiner äußerte sich zu den wirklichen Beweggründen. Im Zweifelsfall flüsterte Stipe, das sei ihm „zu privat“ – auch wenn man nur wissen wollte, warum sie nicht auf Tournee gingen. Für diverse Titelgeschichten sprachen wir mit der Band – im Studio in Vancouver, mehrmals in New York und 2010 schließlich in Berlin, wo sie ihr letztes Album aufnahmen. Zum Interview in einer Galerie in Mitte kam Stipe mit dem Fahrrad, als wäre er hier zu Hause. Und tatsächlich hat seine Verbundenheit zur Hauptstadt bis heute gehalten – er besucht sie häufig, wenn er nicht gerade in New York oder Athens weilt: „Ich liebe Berlin, ich liebe das Tempo und die Energie. Es ist ganz anders als New York, und genau das macht viel vom Reiz der Stadt aus.“
Stipe hat sich inzwischen ganz der Kunst verschrieben, er arbeitet an Skulpturen, Installationen und Fotografien. Aktuell beschreibt er seine Projekte so: „Ich arbeite an einem Video-Stück, das mit Tanz zu tun hat, an einem Audio-Stück, das Teil einer größeren Serie über Jean Genet ist, und an einer Fotoserie, die nächstes Jahr als kleines Buch veröffentlicht wird – es erzählt von der Arbeit, die ich in den vergangenen sieben Jahren gemacht habe, in anderen Bereichen als der Musik.“ Warum haben wir bisher keine Ausstellungen von ihm gesehen? An mangelndem Interesse kann es kaum liegen. Stipe gibt sich bedeckt: „Ich habe einige Anfragen aus New York, Tokio und London bekommen, aber ich fühle mich, als würde ich immer noch lernen, und ich habe es nicht eilig, eine Ausstellung zu machen.“
Nebenjob: Rockstar
R.E.M.-Manager Bertis Downs sagte, Michael Stipe sei eben „ein Künstler, der nur 30 Jahre Pause gemacht hat, um Rockstar zu sein“. Doch wie schafft man diese Umstellung: jahrzehntelang frenetisch umjubelt zu werden und dann komplett runterzufahren? Vermisst man die Bewunderung nicht, die direkte Bestätigung? Nicht dieser Mann, er scheint es nicht nötig zu haben: „Die Resonanz, die ich jetzt bekomme, ist eher persönlicher Art. Ich arbeite jetzt nur für mich selbst, nicht fürs große Publikum. Natürlich hoffe ich, dass ich die Ergebnisse meiner Arbeit eines Tages anderen vorstellen werde, aber momentan mache ich’s für mich und schaue, wie sich das anfühlt.“
Im Juni gab Stipe plötzlich ein musikalisches Lebenszeichen von sich: Für den Soundtrack zu Tom Gilroys „The Cold Lands“ nahm er ein Instrumentalstück gleichen Titels auf – eher eine elektronisch-elegische Klangkulisse als ein Song. Gilroy produzierte schon vor mehr als 20 Jahren Videos für R.E.M., es war also eher ein Freundschaftsdienst als eine Rückkehr ins Musikgeschäft: „Das war etwas Einmaliges für einen sehr guten Freund. Ich hatte viel Spaß dabei, aber noch einmal: Ich habe es auch nicht eilig, in nächster Zeit an Musikprojekten zu arbeiten.“ Allerdings, das gibt er immerhin zu, schreibt er manchmal noch gute Zeilen nieder, wenn ihm gerade welche einfallen: „Man weiß ja nie, wann man etwas wofür auch immer brauchen könnte.“
AmazonSo viel zur unbestimmten Zukunft. Sein Ex-Kollege Mike Mills wurde vor Kurzem in einem Radiointerview gefragt, wie man ihn bezeichnen solle: „Ex-R.E.M.? Immer R.E.M.?“ Wie aus der Pistole geschossen antwortete der Bassist fröhlich: „Immer R.E.M.!“ Stipe äußert sich auch dazu nicht. Er hat nie gern über die Vergangenheit gesprochen – jetzt blendet er sie völlig aus. Was etwas seltsam wirkt, weil er doch stolz auf das Erreichte sein müsste und es wahrscheinlich auch ist. Und zudem findet man es als Musikliebhaber natürlich schade, dass man diese einzigartige Stimme nun kaum noch hören wird. Immerhin konnte er sich vor einigen Monaten zu einer großen Rede durchringen.
Vor sieben Jahren führte Pearl-Jam-Sänger Eddie Vedder R.E.M. in die Rock and Roll Hall of Fame ein. In diesem Jahr hielt Michael Stipe die Laudatio auf Nirvana – sichtlich aufgewühlt, mit bewegenden, warmherzigen Worten. Er konnte einfach nicht anders: „Ich fühlte mich sehr geehrt, als die Band mich fragte. Ich mag öffentliche Reden überhaupt nicht, aber ich dachte, dass es meine Pflicht war, die Band und ihr Vermächtnis so gut wie möglich zu repräsentieren.“ Die Ansprache habe er selbst geschrieben, fügt er hinzu, mit Hilfe von Krist Novoselic und Dave Grohl. Vielleicht hatte er dabei im Ohr, was Vedder damals über R.E.M. sagte: „Michael Stipe sollte so stolz sein, er ist ein wahrer Poet – und so viel mehr.“
Von diesem „Mehr“ werden wir in den nächsten Jahren mehr sehen. Ob wir ihn noch einmal als R.E.M.-Sänger hören werden? Für einen Riesenbatzen Geld bestimmt nicht. Für einen guten Zweck vielleicht. Damals bei der Hall-of-Fame-Zeremonie bedankte Stipe sich bei Bill Berry, Peter Buck und Mike Mills dafür, dass sie ihn, der so gar nicht zum Rockstar geschaffen schien, annahmen und ihm „erlaubten, aus einem fantastischen Teenager-Traum eine erwachsene, lebenslange Realität zu machen“. Lebenslang? Da ist noch reichlich Zeit.
Doch ein ganz kleines bisschen Vergangenheitsbewältigung zum Schluss, die Musik von 1994 bis 2014 betreffend. Muss man ja nicht allzu ernst nehmen.
Welche Musiker/Bands waren für dich in den vergangenen 20 Jahren prägend?
Wer sollte unbedingt mal auf das ROLLING-STONE-Cover?
Mick Jagger.