R.E.M.-Sänger Michael Stipe: Der melancholische (Alb-)Träumer
Es ist nicht nur Michael Stipes unverwechselbare Stimme, die ihn zu einem großen Sänger machte.
Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als wären R.E.M. für Michael Stipe nur eine biographische Randnotiz gewesen. Ein unerwartet erfolgreiches Projekt, das zu einem für alle Beteiligten friedvollen Ende gebracht wurde. Doch nun sollte die eigentliche künstlerische Karriere folgen. Kein Interview, in dem der Sänger nicht über die Vorzüge des Lebens danach philosophierte.
Natürlich verzog sich Stipe erst einmal aus der Öffentlichkeit. Er legte sich einen Bart zu und einen Piercing, wie Eremiten das manchmal machen. Dann flog er zwischen seinen Wahlheimaten, darunter auch Berlin, hin und her, zeichnete, malte und fotografierte. Inzwischen werden seine Bilder, die ja auch früh zum Teil des visuellen Universums seiner Band geworden sind (das schroffe Wüsten-Cover von „New Adventures In Hi-Fi“ fotografierte Stipe aus dem Tour-Bus), ausgestellt. Mit „Generation X“-Autor Douglas Coupland entwickelte er einen ungewöhnlichen Foto-Band, der den Einfluss des Digitalen auf das Alltagsleben reflektieren sollte. Aber der Bart ist wieder weg. Ein Glück.
„Bitte keine Fragen zu R.E.M.“, heißt es nun bei eigentlich jedem öffentlichen Auftritt. Der Rückblick auf die Vergangenheit ist dem feinsinnigen Melancholiker, der schon in seiner Kindheit unzählige Male den Wohnort wechselte, immer fremd geblieben. Dennoch scheint er nichts gegen eine Reaktivierung seiner Band als funkelndes Relikt einer längst verblassten Rock-Vergangenheit zu haben.
Keine Nostalgie
Neue Musik wird es von R.E.M. nicht mehr geben, das wiederholt er immer wieder freundlich. Zweifel an seinen Fähigkeiten über die Musik hinaus scheint Stipe auch nicht zu haben. Vielleicht auch deswegen, weil er sich selbst nie als Musiker empfand. Aber die alten Songs, auch all das, was irgendwo noch im Archiv zu finden ist (viel ist es nicht, denn Michael Stipe und seine Kollegen Mike Mills, Peter Buck und Bill Berry holten immer das Beste heraus und erzeugten wenig Überschuss), dürfen gerne noch einmal erscheinen. Seit Jahren kommt ein Album nach dem nächsten als remasterte Deluxe-Variante heraus, zuletzt „Up“, das erste Album, das nach dem Ausstieg von Schlagzeuger Bill Berry entstand.
Und dann erzählt Michael Stipe. Von den eher häufiger beschwerlichen Zeiten im Studio. Von seinem immerzu verfeinerten Songwriting, auf das er stolz ist (U2-Sänger Bono nennt ihn zurecht einen Poeten). Aber auch von der Kraft der Freundschaft, die den Musikern ermöglichte, so manchen Streit über die künstlerische Richtung ihrer Formation auszuhalten.
Jeder bekam sein Album, also durfte ihm seinen ganz eigenen Stempel aufdrücken. Stipe gehörten die verschlossensten davon. „Automatic For The People“. Aber auch „Around The Sun“. Seine Texte leben von der Improvisation, sie reihen Wörter aneinander, die manchmal gar nicht zueinander passen wollen. Manche Songs bezeichnete Stipe selbst als Auskotzsongs, wie das dunkle „Country Feedback“ und das Traumgebälk von „It’s The End Of The World As We Know It“. Mit wenigen Zeilen auf dem Blatt Papier legte der Sänger einfach los, ließ heraus, was sich in ihm anstaute.
Bis zuletzt funktionierten die Glanzstücke von R.E.M. nach diesem Prinzip. Sie beruhen im Kern auf gewaltigen Emotionen, die sich Bahn brechen („Let Me In“), auf kreatürlichen Analogien („Gardening At Night“, „Nightswimming“). Sie tendieren ins Mystische („Find The River“) und wiederholen fast zwanghaft Motive. So zum Beispiel Bilder von Flüssigem, von Flüssen, Meeren, Tränen („Undertow“, „Cuyahoga“). Die Songs von R.E.M. machen Politisches stets zu einer Frage von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit („Ignoreland“„The Final Straw“). Auch sind sie oft auf eine beunruhigende Art konkret („New Test Leper“). Der stille Zuhörer Stipe sammelt Geschichten, die er aufschnappt und verkleinert sie zu Anekdoten, die immer eine Ahnung davon geben, dass die Welt wankt. Aber die Hoffnung bleibt. „Part Lies, Part Heart, Part Truth, Part Garbage“, wie ihre Best-Of-Ausgabe von 2011 wunderbar passend heißt.
Michael Stipes Stimme
Was machte R.E.M., diese kleine verschworene Bande aus Athens, die in ihren ersten Jahren kaum einen Tag Rast machte und mit dem Bus pausenlos und nach Angaben vieler gehässiger Kollegen ohne Deodorant durch „Little America“ fuhr, denn nun zu einer Erfolgsgeschichte? Michael Stipe ist sich sicher, dass es seine außergewöhnlich nasale, leicht gereizte, aber eben nach Tiefe klingende Stimme war. Tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal. Keiner klingt wie Stipe. Obwohl sich Lee Ranaldo fast danach anhört.
Natürlich ist das etwas unfair. Es sind die unnachahmlichen, oft ja auch rätselhaft umständlichen Kompositionen von Peter Buck und Mike Mills, auch viele Ideen des schließlich früh in den Ruhestand entschwundenen Schlagzeugers Bill Berry. Große Melodien, aus kargen Songskizzen geschält (man höre die den Neuausgaben der alten Platten beigefügten Demos!). Der gemurmelte Minimalismus der ersten Jahre zog die Verschrobenen an. Dann kamen die Studenten hinzu, als R.E.M zum College-Radio-Phänomen wurden. Schließlich schwärmten Musikkritiker rund um die Welt von einer Gruppe, deren Sänger auf merkwürdige Art und Weise unnahbar, schüchtern, verstimmt blieb.
Aber diese Introspektion Stipes, eine charakterstarke Zurückhaltung, in einer irr gewordenen Zeit nicht den Verstand zu verlieren, ist bis zum letzten Ton, den die Musiker gemeinsam produzierten, Teil der Magie von R.E.M. geblieben. Viele Frontmänner des Rock nehmen mit ihrer Virilität für sich ein. Stipe hielt seine Verletzlichkeit und Unsicherheit dagegen. Eyes wide shut.
Auf der Bühne blickte er in den ersten Jahren kaum ins Publikum und oft nach unten. Seine Gehemmtheit und „Clumsiness“ waren nicht gespielt. Mit den Jahren verlor Stipe aber die Hemmungen. Er erschuf sich eine Bühnenidentität, wie es alle großen Sänger irgendwann tun, wenn sie sich ihrer Performance gewiss werden. Offensichtlich blieb der Kampf, die innere Anspannung aber dennoch. Feeling Gravity’s Pull.
Traurigkeit und Trost
Stipe tanzte, wenn er sich bewegte, wie ein Zitteraal. Er brach regelmäßig bei „Country Feedback“ zusammen, kauerte vor seinem Mikrophon. Wie Stipe auf der Bühne seine Hände bewegt, wie er damit seine Gefühle dirigiert und damit auch die des Publikums, bleibt bis heute bewegend und ist für Aussenstehende schwer zu beschreiben. Ja, der Erfolg von R.E.M., das Charisma von Michael Stipe, beruhen auf dieser elektrischen Verbindung zwischen Zuhörern und Musikern.
Mag sich Stipe auch manchmal mit Schminke verhüllt haben, vielleicht um sich vor den gierigen Blicken der Öffentlichkeit (und den großen Erwartungen) zu schützen, all dies diente nicht dem Verstecken, sondern dem Enthüllen. „Not everyone can carry the weight of the world“, heißt es in „Talk About The Passion“ – und was sind Stipes Songtexte anderes als Zwiegespräche mit seiner und unserer Leidenschaft. Mit dem, was Leiden schafft. Kein anderer Songwriter trotzte seiner eigenen Schwermut derart viel Tröstliches ab.
Auch deshalb ist es schön, dass Michael Stipe wieder Musik macht. Auch wenn sein erstes Soloalbum nun schon seit Jahren quasi inoffiziell angekündigt ist, und trotzdem nie erscheint. Viele Songs, die allerdings noch nicht alle fertig sind, hat Stipe nach eigenen Angaben bereits in der Hinterhand. Er hat sie selbst geschrieben und will sie auch eigenständig komponieren. Eine neue Herausforderung für einen Künstler, der sich eben nie nur als Musiker verstand. Aber noch den letzten Brüter erfasst irgendwann der Ehrgeiz, es mit der Welt aufzunehmen.
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