Miami Vice: die Erfindung der 80er-Jahre
1984 revolutionierte „Miami Vice“ die Fernsehserie: eine Erinnerung
Für manche ist es nur eine lange Autofahrt in der Nacht, für andere ist es der definierende Moment der 80er-Jahre – jedenfalls in einer Fernsehserie. Ricardo Tubbs und Sonny Crockett sind verraten worden, Tubbs‘ Bruder und Crocketts Kollege sind tot, und jetzt fahren die beiden in einem Ferrari Daytona Spyder ihrem Schicksal entgegen. Phil Collins‘ „In The Air Tonight“ setzt ein, man hört nur ein wenig Fahrtwind, Tubbs schaut zu Crockett am Steuer und lädt seinen Revolver, dann fragt Crockett, wie viel Zeit bleibt, Tubbs sagt: „25 Minuten“, man sieht einen Reifen und die Flanke des Ferrari, und man sieht die Kühlerhaube und die Straße davor aus einer ebenso rätselhaften Vogelperspektive. Die Straße ist leer.
Sie halten an einer einsamen Telefonzelle, daneben steht eine Straßenlampe mit einer riesigen Leuchtreklame für „Bennay‘s Cafe“, dahinter sieht man in der Ferne die Skyline von Miami. Jetzt ruft Crockett jemanden an, nämlich seine frühere Ehefrau Caroline, die mit den Kindern am Abendbrotstisch sitzt, und er fragt, ob ihre Beziehung echt gewesen sei – er meine NICHT JETZT, sondern VORHER. Ja, Sonny, sagt sie, darauf kannst Du wetten. Crockett legt auf, sie fahren weiter, und dann sind sie am Hafen.
Es ist eine Szene in der ersten Folge, dem Pilotfilm von „Miami Vice“, „Brother‘s Keeper“, der am 16. September 1984 bei NBC gezeigt wurde. Man muss zeitgenössische Serien wie „Vegas“ dagegenhalten, um zu ermessen, was die von Anthony Yerkovich erfundene und betreute Serie in den 80er-Jahren bedeutete – und zwar jenseits der Pastellfarben, der Anzüge, Schuhe und Jacketts, die längst überall waren, als „Miami Vice“ im Dezember 1986 im deutschen Fernsehen anlief. Für den Rest der Dekade übernahmen Boutiquen, Reisebüros, Eisdielen, Tanzschulen und Werbeagenturen und das Kino sowieso das Art-déco-Design und die Farben der Serie, man trug die Haare wie Don Johnson und Drei-Tage-Bart, und vor allem hörte man den Soundtrack. „In The Air Tonight“ war 1981 auf Phil Collins‘ Album „Face Value“ erschienen, es war ein Hit, aber kein gewaltiger. Bei „Miami Vice“ war das Stück einer von mehr als 300 Songs, die in 111 Folgen eingesetzt wurden – und während die Musik selten handlungsstragend oder sinnfällig ist, hat sie in „Brother‘s Keeper“ überragende Bedeutung.
Zunächst waren die Quoten schlecht
Den Produzenten gefiel es so gut, dass sie „In The Air Tonight“ noch einmal in der fünften und letzten Staffel verwendeten, in der Episode „Eine Kugel für Crockett“, einer schwächlichen Reprise: Nachdem Crockett angeschossen wurde und im Krankenhaus um sein Leben gekämpft wird, paradieren frühere Szenen vorbei, die Rückblenden sind vor allem sentimental.
Aber „Miami Vice“ ist eine sentimentale Serie. Anthony Yerkovich fasste die Idee mit dem Begriff „MTV Cops“ zusammen, und NBC kaufte sie sofort. Don Johnson und Philip Michael Thomas wurden für die Hauptrollen besetzt, Jan Hammer komponierte die knallige Titelmusik, und Michael Mann übernahm die Produktion. Die erste Staffel – die allerdings gegen „Falcon Crest“ und „Dallas“ gesetzt wurde – hatte keine guten Quoten, und die Produzenten machten etwas Merkwürdiges: Sie betonten nicht den Glamour dieser Polizisten und den Schauplatz Miami – sie nahmen die leichten, komödienhaften Elemente heraus, verdunkelten die Atmosphäre und holten Edward James Olmos als Leiter des Sittendezernats, den finstersten und enigmatischsten Schauspieler, der sich denken lässt, berühmt für seine Darstellung in „Blade Runner“. „Miami Vice“ wurde zum Film noir in Bonbonfarben.
Später bekannte Regisseure wie Abel Ferrara und Jim Johnston inszenierten einige Folgen der ersten beiden Staffeln, und als der Erfolg einsetzte, kamen auch die Stars: Sheena Easton, Phil Collins, Leonard Cohen, Glenn Frey, Pam Grier, Willie Nelson und Frank Zappa, sogar Lee Iacocca und Watergate-Flüsterer Gordon Liddy hatten Gastauftritte, unter den damals unbekannten Schauspielern waren Benicio Del Toro, Julia Roberts, Laurence Fishburne, Michael Madsen, Stanley Tucci, Liam Neeson, Ving Rhames, Wesley Snipes, Steve Buscemi, Ben Stiller. 1985 glaubte Philip Michael Thomas, „Miami Vice“ werde ewig laufen.
Und Ende der 80er-Jahre war es vorbei. „Miami Vice“ war die Avantgarde von gestern, nun hatte Thomas einen Bart und Don Johnson lange Haare, das Jahrzehnt verdümpelte, die Drehbücher erfanden immer neuen Drogenbarone und Potentaten in Südamerika, und die Autos und die Frauen und die Anzüge und die Flamingos sah man in jedem verdammten Videoclip. MTV hatte es gegeben, MTV hatte es genommen.
Miami Vice war gut – zu seiner Zeit
„Irgendwohin, wo die Luft warm ist und die Drinks kühl sind“, sagt Crockett zu Tubbs, der nach New York heimkehren will, sie brausen davon, und aus dem Off hört man Crocketts Stimme: „Kannst Du Dir vorstellen, ein Cop im Süden zu sein?“ Um das Jahr 2010 wurden die Folgen im ZDF noch einmal gezeigt, spät am Freitagabend: Man konnte sehen, dass „Miami Vice“ der Zeit nicht VORAUS, sondern die Zeit GEWESEN war. Michael Manns Film von 2006 mit Colin Farrell und Jamie Foxx hatte nichts von der Magie jener Autoszene; die Nacht und das blaue Licht und die gedämpften Geräusche hatte Mann in seinen Filmen „Heat“ und „The Insider“ verbraucht.
Aber Mann, es war eine verdammt coole Fahrt.
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Pilotfilm „Brother‘s Keeper“, der definierende Serien-Moment der 80er-Jahre: